Van der Bellens Fehlentscheidung: Eine spieltheoretische Replik
Wir wissen es längst: Blau-Schwarz wird bei der Regierungsbildung nicht mehr scheitern. Kickl wird wohl der nächste Bundeskanzler, die ÖVP seine Juniorpartnerin. Die Koalitionsverhandlungen scheinen, abgesehen von dem einen oder anderen medialen Störfeuer, gut zu verlaufen. Die rasche Einigkeit zur gemeinsamen Budgetsanierung machte dies deutlich. Wie konnte es dazu kommen und welche Rolle spielte Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit seiner Entscheidung, den Regierungsbildungsauftrag nicht dem Wahlsieger zu erteilen?
Rückblick
In der Rede zum letzten Nationalfeiertag skizzierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen noch, was in Österreich von der nächsten Regierung zu lösen sei und nannte konkret die Klimakrise, die volatile Sicherheitsarchitektur, die Alterung der Gesellschaft, die Inflation, die strukturelle Krise der europäischen Wirtschaft, die Digitalisierung sowie Migrationsprobleme.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Auch wenn Van der Bellens Analyse der gegenwärtigen Krisensituation korrekt ist, nahm die Misere der politischen Staatsführung schon im November 2024 ihren Ausgang. Sie hängt ursprünglich – und das ist äußerst bedauerlich – auch mit der Entscheidung des Bundespräsidenten zusammen, den Regierungsbildungsauftrag nicht an den Obmann der stimmenstärksten Partei, der FPÖ, vergeben zu haben.
Kurzgeführt: Üblicherweise erteilt der Bundespräsident zeitnah nach der Nationalratswahl ebendiesem einen solchen Auftrag. Diese Partei setzt sich dann mit den anderen Mitstreitern zusammen und schaut, wo Koalitionen möglich sind. Diesmal durfte der Bundespräsident aber eine Schlüsselrolle spielen und versagte der stimmenstärksten Partei FPÖ den Auftrag zur Regierungsbildung. Ein folgenreicher Fehler. Van der Bellen begründete seine Entscheidung durch die eingetretene „Pattsituation“. Die FPÖ bestand darauf, dass es nur eine Regierungsbildung mit der FPÖ mit Herbert Kickl als Bundeskanzler gibt, die ÖVP wollte nicht mit einer FPÖ unter der Leitung von Kickl regieren, und die anderen Parteien schlossen eine Zusammenarbeit mit der FPÖ kategorisch aus. Van der Bellen vergab an nun Ex-Kanzler Karl Nehammer.
Entscheidungsfehler
Van der Bellens Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft der verhandlungsbeauftragten Akteure erwies sich allerdings als unberechtigt. Der Bundespräsident verkannte, dass die Akteure sich kaum handelseins zeigen würden. Dies führte letztlich zum Scheitern der gesellschaftlich wünschenswerten Dreierkoalition aus ÖVP, SPÖ und NEOS.
Hätte der Bundespräsident FPÖ-Chef Kickl schon in der ersten Runde im Dezember beauftragt, wäre das nicht nur demokratiepolitisch sauberer gewesen. Wenn keiner mitgemacht hätte, wäre der „Volkskanzler“ nach ein paar Tagen Geschichte gewesen und die drei anderen hätten ohne Kickl im Nacken verhandeln können.
Das wäre fürwahr eine mutige Entscheidung gewesen, und im Erfolgsfall hätte sie für Österreich wohl auch mehr gebracht. Eine derart riskante Entscheidung wäre – wie hier argumentiert wird – auch die einzig logisch plausible gewesen, wollte man einen Kanzler Kickl verhindern.
Ist Van der Bellen einem ‚Anti-Kickl-Dogma‘ auf den Leim gegangen? Denn die zentrale Frage stellte sich schon zu Anfang: Wie konnte Van der Bellen nur in dieses Dilemma schlittern, wenn klar war, dass ein Erfolg in der Beauftragung Nehammers nicht zwangsläufig war, und nur unter der Voraussetzung gelingen konnte, dass die Verhandlungspartner auch kooperationswillig sind?
Spieltheoretisches Modell
Die kooperative Spieltheorie ist eine Methode, die das rationale Entscheidungsverhalten von mehreren „Spielern“ in sozialen Entscheidungssituationen ableitet, in denen der Erfolg des Einzelnen nicht nur vom eigenen Handeln, sondern auch von den Aktionen anderer abhängt. Es eignet sich bestens, um Entscheidungsprozesse in der Politik zu analysieren.
Um die Struktur realer Situationen in der Politik zu modellieren, sind – einfach gesagt – drei zentrale Merkmale strukturbildend: die beteiligten Akteure, deren Handlungsoptionen bzw. Verhaltensalternativen, sowie deren Interessen, die sich in den Präferenzen widerspiegeln und zusammen eine Interessenkonstellation ergeben. Daraus lassen sich mögliche Entscheidungskonflikte ableiten bzw. vorhersehen. Kurz gefasst: Sie erklärt, wie zwei oder mehrere Spieler miteinander interagieren müssen, um ein optimales gemeinsames Ergebnis im Kontext unterschiedlicher Interessen zu erzielen.
Im vorliegenden Fall übernahm Van der Bellen die Rolle des aktiven Spieleröffners. Er hatte drei Optionen zur Wahl: 1.) Er gibt der FPÖ als stimmstärkste Partei den Auftrag zur Regierungsbildung (diese eröffnet dann das Spiel); 2.) er gibt der ÖVP als zweitstärkste Partei den Auftrag, oder 3.) er tut nichts und lässt die Parteien ohne Auftrag sondieren und Mehrheiten finden.
Der Bundespräsident entschied sich für die Beauftragung Nehammers, in der Annahme, Kickl dadurch initiativ und damit eventuell sogar ein für alle Mal als Bundeskanzler zu verhindern. Dieser Fehlschluss führte aber gerade in der zweiten Runde zum schlechtestmöglichen Ergebnis zu bildender Koalitionsvarianten (das Nichtzustandekommen der Dreierkoalition), eben Blau-Schwarz unter der Führung Kickls.
Ergebnisorientiertes Denken
Zwei-Parteien-Spiele dieser Art sind in Anlage und Ergebnis an sich fragil. Um ein Land regierbar zu machen, müssen Kompromisse geschlossen werden.
Mangelndes Vertrauen und ein fehlendes gemeinsames Leitbild sowie die Halsstarrigkeit der Verhandlungspartner sind nebst interessegeleiteten Diskrepanzen bekannte Kooperationsfallen. Werden weitere Spieler hinzugezogen, vergrößern sich die Unsicherheiten. Ein für alle zufriedenstellendes Ergebnis wird dann umso unwahrscheinlicher. Gleichgewichte – also ein alle Parteien zufriedenstellendes Ergebnis – sind dann kaum stabil. Die Eigeninteressen der beteiligten Spieler (Vorteile ausbedingen, eigenes Klientel bedienen usw.) korrumpieren das Kooperationsbemühen. Die Summe der möglichen individuellen Gewinne, die die Akteure aus der Teilnahme an den Verhandlungen ziehen, liefert dann das sozial unerwünschte Ergebnis (Stichwort: „Scheitern der Koalitionsbildung“).
Aber: Leitete Van der Bellen das Spiel falsch ein und erhöhte dadurch den Druck?
Er hätte vorhersehen können, von welchen Einstellungen manche Verhandlungspartner geleitet sind (Eigennutz geht vor Gemeinwohl), mit welchen Gewinnerwartungen diese in das Spiel gehen (eine systemerhaltende Dreierkoalition geht vor erster FPÖ-geführter Regierung, also „Kooperation“ vor ‚Nicht-Kooperation‘), und welcher prinzipieller Kooperationswille sie ursprünglich antrieb („Kickl verhindern“ geht vor „Nicht-Kooperation“ als Basisstrategie).
Dabei hätte die Methodik der Spieltheorie helfen können. Nach Beauftragung des Bundespräsidenten befand Spieler 1 (der parteiführende Verhandlungsführer, also Nehammer) zunächst darüber, ob er überhaupt mit dem anderen Spieler (dem gewählten Koalitionspartner, hier Babler) zusammenarbeiten will oder nicht.
Im ersteren Fall kann Spieler 2 (SPÖ) die Kooperationsbereitschaft der ersten Partei ausbeuten, statt in fairer Weise die Kooperationsgewinne aufzuteilen. Während Spieler 2 die Ausbeutung der fairen Aufteilung und der Nichtkooperation vorzieht, ist für Spieler 1 die Ausbeutung sogar noch schlechter als die Nichtkooperation. Das Scheitern einer Koalitionsbildung zwischen ÖVP und SPÖ war die Folge. Ein solches Szenario wäre – mit Blick auf das große Ganze – in Runde 2 allerdings weniger gravierend als in Runde 1.
Van der Bellen hätte das Verhandlungsspiel von hinten nach vorne lesen sollen, das heißt „vom Endergebnis her“ denken sollen. Das Spiel war ja ein „endliches“, hatte einen fixen Startpunkt und ein fixes Ende. Zu gewinnen war ein Koalitionsvertrag, den die Spieler in bester Absicht auf neues Bündnis der konstruktiven Kräfte im Lande unterzeichnen sollten. Durch eine Erstbeauftragung Kickls wäre eine Koalition von Blau-Schwarz zu verhindern gewesen. Dann wäre wohl eine Regierung ohne FPÖ zustande gekommen. Es kam anders. Die Folgekosten seiner Fehlentscheidung sind evident.
PAUL CLEMENS MURSCHETZ ist Privatdozent für Medienmanagement und Medienökonomie und selbstständiger Medienberater (mmc – murschetz media consulting).