Verdrehte Welt der Superstreamer
ORF-Inhalte werden jetzt auf der ProSieben-Plattform Joyn gestreamt. Eigentlich sollte es umgekehrt sein – denn wer die Plattform hat, der hat auch die Macht.
Eine Million monatlich aktive Nutzer:innen, die täglich im Schnitt fast zwei Stunden Video streamen, 70 Sender, und, Achtung, 30 integrierte Mediatheken: Wer den „Superstreamer” Joyn lediglich als Antwort eines Medienkonzerns auf Netflix, Disney+ und Co. versteht, der täuscht sich. Denn Joyn hat die große Ambition, sich als technische Plattform für die Video-Angebote anderer TV-Sender zu etablieren. Neben den ProSieben-Kanälen haben mittlerweile nicht nur ServusTV und Krone TV Einzug gehalten, sondern sogar der ORF. Wer ORF 1, 2 oder 3 sehen will, muss nicht mehr in die TVthek, sondern kann das auch bei Joyn tun.
Aus End-User-Sicht ist es sicher praktisch, viele Inhalte in einer Video-App streamen zu können – zumal Joyn bei der User Experience schon ein paar Meter weiter ist als so manch andere Mediathek. Und trotzdem ist es eine verkehrte Welt: Die Plattform eines deutschen Medienkonzerns wird zur zweiten digitalen Heimat des österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Dass die TVthek veraltet ist, ist kein Geheimnis; immerhin soll sie ab Anfang 2024 schrittweise zur neuen Streaming-Plattform ORF ON im Web umgebaut werden, die die TVthek ab April 2024 letztendlich ersetzt. Währenddessen ist Joyn längst am Start und sammelt User ein. Damit ist offen, welche Plattform in Österreich 2024 die führende sein wird – Joyn hat hier einen Vorsprung gegenüber ORF ON herausgearbeitet, und das auch noch mit Hilfe der ORF-Inhalte.
Plattformen geben den Ton an
Insgesamt ist es eine verkehrte Welt. Denn eigentlich möchte man meinen: Die Plattform sollte doch der Öffentlich-Rechtliche zur Verfügung stellen, auf der dann die Privatsender ihren Content verbreiten. Am Ende geht es bei Plattformen darum, wer den Algorithmus definiert, sprich: Welche Videos sind auf der Startseite? Was wird den Usern empfohlen? Welche neuen Inhalte werden wie und wann ausgespielt? Der Algorithmus entscheidet über Erfolg und Misserfolg von Inhalten. Wer glaubt, es brauche einfach guten Content, und der werde sich dann schon durchsetzen, hat Online-Distribution nicht verstanden. Plattformen sind mit ihren Algorithmen und Regeln Gatekeeper.
Noch ist das Rennen nicht entschieden, aber nehmen wir den Optimalfall für Joyn an: Die Strategie geht auf, die Österreicher:innen strömen zum Superstreamer und sehen nur mehr dort fern. Aber was werden sie dort sehen, was wird ihnen empfohlen? Stell dir ein Startup ohne Marketing-Budget vor, das tolle Sendungen macht, und dann bei Joyn gesehen werden will. Wie wird es seinen Content auf die Startseite, in die Empfehlungen bringen können? Entscheiden wird das letztlich eine deutsche Firma.
Wer sitzt künftig am Drücker?
Joyn ist kein Projekt für die Allgemeinheit und auch keine neutrale Plattform für die Video-Zukunft Österreichs, sondern gehorcht letzten Endes den Geschäftsstrategien des gebeutelten deutschen Medienkonzerns ProSiebenSat.1, der Mutter von ProSiebenSat.1 PULS 4 in Österreich. Der deutsche Konzern ist in einer turbulenten Phase, alleine in den letzten 12 Monaten verlor der Aktienkurs etwa 20 Prozent. 2023 wurde die Chefetage umgebaut, 400 Vollzeitstellen gestrichen, ein neuer (alter) Fokus auf Entertainment und im Digitalen eben auf Joyn gelegt.
Der neue ProSiebenSat.1-CEO Bert Habets, der vorher schon bei RTL in den Niederlanden den Video-Streaming-Dienst Videoland erfolgreich eingeführt und den Roll-out der Streaming-Dienste in der gesamten RTL Group verantwortete, soll das Unternehmen wieder auf Schiene bringen. Aber viel Zeit wird ihm nicht bleiben.
Denn wem gehört ProSiebenSat.1 künftig? Schon heute ist der Medienkonzern Media For Europe (MFE) des verstorbenen Medienmoguls Silvio Berlusconi mit 26,58 Prozent größter Aktionär des deutschen Unternehmens. Im November 2023 erfolgte der bereits zweite Anlauf, die Kontrolle bei ProSiebenSat.1 zu erkaufen. Steht dann bei MFE, das mit Infinity wieder seine eigene Streaming-Plattform am Start hat, noch Joyn im Fokus? Wie wird MFE am Algorithmus drehen, und Startseiten und Empfehlungen gestalten? Und letztlich: Wird dann im niederländischen MFE-Headquarter entschieden, welche Reichweiten ORF-Programme haben?
JAKOB STEINSCHADEN ist Mitgründer und Chefredakteur des Innovationsmediums Trending Topics, zweifacher Buchautor und Vater einer bezaubernden Tochter in Wien.