Verteidigt die liberale Demokratie!

Die deutsche Bundestagswahl ist vorbei. Der Souverän hat entschieden. Jetzt muss die Demokratie damit zurechtkommen. Ein guter Zeitpunkt, um sich über den Zustand unserer Demokratie zu verständigen und über deren Kern zu vergewissern.
Die Hölle, so wusste Jean-Paul Sartre, „das sind die Anderen“. In eine besondere Spielart dieser Hölle versetzt uns die Demokratie, die uns als Staatsform nicht nur ein großes Versprechen politischer Freiheit gibt, sondern auch die Zumutung auferlegt, die „Anderen“ mit all ihren abweichenden Meinungen, Bedürfnissen und Interessen tatsächlich zu ertragen und mit ihnen in friedlicher Ko-Existenz zu leben.
Ja, Demokratie ist eine Zumutung. Sie ist anstrengend, langwierig, bisweilen schlicht ermüdend. Viel bequemer ist es, wenn ein vermeintlich starker Mann (seltener eine starke Frau …) durchregiert, wenn man sich nicht allzu viele Gedanken machen muss. Genau mit diesem Versprechen einer radikalen Reduktion von Komplexität locken die Feinde der Demokratie. Dennoch wollen die Menschen in großer Mehrheit in Demokratien leben. Je deutlicher sich die Feinde der Demokratie zu erkennen geben, umso kostbarer erscheint ihnen ihre Freiheit.
Freiheit – wer würde bezweifeln, dass sie den Kern von Demokratie ausmacht? Demokratie ermöglicht nicht nur Freiheit, sie ist selbst Ausdruck von Freiheit. Der Begriff stellt so etwas wie die Leitwährung dar. An ihm müssen sich Institutionen und Verfahren messen lassen.
Auf den ersten Blick scheint es so, als könne man sich – unter Demokratinnen und Demokraten – einvernehmlich auf den Wert der Freiheit einigen. Freiheit ist ein Schlüsselbegriff der Moderne, der die philosophischen und politischen Debatten wie ein Gravitations-Zentrum zusammenhält. Aber was genau wir mit Freiheit meinen, ist äußert unklar, mitunter heftig umstritten.
Es gibt nicht wenige Stimmen – und es sind oft die lautesten –, die vor allem diese individuelle Freiheit verabsolutieren. Das Recht, Anspruch zu haben auf individuelle Freiheit, wird dann zur absoluten Größe: etwa bei der Impf-Freiheit. Wie auch immer man die staatliche Reaktion auf die Pandemie in der Rückschau bewerten will – als hysterisch, planlos, übertrieben oder aber als angemessen, klug und weitsichtig –, das Beispiel zeigt, was demokratische Politik im Kern umtreibt: die Frage nach der angemessenen Interpretation des Begriffs Freiheit. Genau diese Frage stellte sich während der Corona-Pandemie. Oder allgemeiner: Sie stellt sich vor allem in Krisenzeiten.
Nun ist es eine Tatsache: Wir leben im permanenten Krisenmodus. Die einzige verlässliche Erwartung in die Zukunft besteht darin, dass noch weitere Krisen auf uns zukommen. Krieg, Flucht, Klima: Alte Gewissheiten verlieren ihre Gültigkeit, auch die vom steten Wachstum, Frieden und Wohlstand. Die Wirklichkeit stellt uns eindringlicher als noch vor Jahren vor die Frage, was uns das Leben in Freiheit eigentlich wert ist – und wie es um unsere Solidarität, um unseren Gemeinsinn wirklich steht.
Ist Demokratie nur ein Mechanismus, der es erlaubt, persönliche Selbstentfaltung, ökonomischen Wohlstand und ein individuelles „Streben nach Glück“ zu ermöglichen? Oder geht es um mehr? Um ein Leben in Würde, ein Leben ohne Angst, ein Leben in Sicherheit? Was wollen wir uns zumuten, um diese Errungenschaften zu verteidigen, rhetorisch und politisch im Inneren, notfalls militärisch nach außen?
Jahrzehntelang war unser Land in einer pazifistischen Wohlfühlzone angesiedelt. Wir Deutsche hielten uns raus und verweigerten unbequemes Nachdenken über militärische Wirklich- und Notwendigkeiten. Sicherheit und Freiheit, alles was eine Demokratie im Kern zusammenhält – wir hielten es für den normativen, staatlich garantierten Dauerzustand. Ganz so, als hätten wir darauf einen Rechtsanspruch. Die historische Vision von einem guten Leben schrumpft hier zu einem Verbraucher-Recht. Jede Enttäuschung kann in eine Beschwerde münden, in eine Klage, einen Protest – vorzugsweise gegen den Staat und all jene, die ihn in irgendeiner Form repräsentieren.
Festhalten dürfen wir: Eine Demokratie ist eben mehr als eine Service-Einheit, ein All-inclusive-Angebot zur freien Verwendung – möglichst kostengünstig und von der Steuer absetzbar. Wenn wir uns darauf verständigen können, dass Demokratie nicht das ist, worauf Bürgerinnen und Bürger Anspruch haben, sondern etwas, was uns in Anspruch nimmt – dann sind wir demokratiefähig. Demokratie verlangt und verdient mehr. Demokratie fordert uns – weil sie andauernder, empathischer Zuwendung bedarf. Sie lebt von Teilnahme und Teilhabe, von Verpflichtung und Verantwortung.
Vom ICH zum WIR – das ist die Formel, die sich eine demokratische Gesellschaft im besten Falle selbst auferlegt. Sie beruht auf den Werten Freiheit und Gleichheit – und aus diesen Werten ergibt sich eine Logik der demokratischen Repräsentation, die mit Wahlen geregelt wird.
Interessen-Gegensätze ausgleichen und moderieren
Zu unserer freiheitlichen Gesellschaft gehört, dass Menschen ihr Herz ungestraft an Dinge hängen dürfen, über die andere nur den Kopf schütteln können. Denn: Es gibt nicht nur eine Sicht auf die Welt, auf die Wirklichkeit und die Sinnhaftigkeit des Lebens, auf das Zweckmäßige, auf das Notwendige. Demokratie heißt: Weltanschauungs-Freiheit. Im Kern beinhaltet sie den Gedanken, dass Individuen zentrale Rechte besitzen: körperliche Unversehrtheit, auch Meinungs- und Religionsfreiheit, Recht auf Eigentum.
Die Instanz, diese Rechte zu schützen, ist der Staat. Wir nennen ihn Rechtsstaat. Unser Rechtsstaat ist aber nicht nur ein verbindliches Instrument zum Schutz des Individuums. Er ist auch Garant dafür, Interessen-Gegensätze zu moderieren.
Statt einer Ethnie, einer Klasse oder einer Religion das Monopol auf Wahrheit zuzusprechen, vertraut der Rechtsstaat auf die Stärke des produktiven Streits, auf die Stärke des besseren Arguments – und auf einen gesellschafts-befriedenden Konsens.
Auf der Basis absoluter Wahrheitsansprüche ist Demokratie ohnehin gar nicht möglich: Über Wahrheiten lässt sich nicht abstimmen. Wahrheiten sind nicht mehrheitsfähig und Interessen sind nicht wahrheits-fähig.
Und noch eine Differenzierung kann hilfreich sein: Demokratie ist nicht unbedingt Gemeinschaft. Demokratie ist vor allem Gesellschaft – also das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen, Sichtweisen und Meinungen.
Im Fokus unserer demokratischen Verfassung steht nicht das Volk, sondern der Mensch. Seine unantastbare Würde zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt. Das sagt unser Grundgesetz, noch bevor es überhaupt von Grundrechten und Staatsorganisation und allem anderen zu sprechen beginnt. Das kommt zuerst. Kurzum: Der Einzelne kann (im Sinne Sartres) in der Demokratie ein „Anderer“ sein. Er kann etwas anderes glauben, eine andere Meinung haben – das ist sein Grundrecht. Er darf sich sogar der Gemeinschaft in den Weg stellen, er darf öffentlichen Raum einnehmen. Er darf protestieren und dagegen sein.
Wir nennen das im Rechtsstaat freie Meinungsäußerung, samt Redefreiheit und dem Recht, öffentlich, sicht- und hörbar zu demonstrieren. Das Recht, sich zum Zeichen des gemeinsamen Nicht-Einverstanden-Seins friedlich und gewaltfrei zu versammeln – das garantiert unser Grundgesetz seinen Bürgerinnen und Bürgern explizit. Es macht unseren Staat, unser Gemeinwesen erst frei und demokratisch. Es ist, wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert, für unsere freiheitliche, demokratische Staatsordnung „konstituierend“. Unsere Verfassung ist also Text und Ideal zugleich. Sie allein gibt den verbindlichen Rahmen unseres Zusammenlebens, unseres Gemeinwesens vor: nicht die Bibel, nicht die Tora, auch nicht der Koran.
Streit ist ein gutes Zeichen einer vitalen Demokratie
Zum Wesen der Demokratie gehört die politische Auseinandersetzung. Alles wird besprochen, hinterfragt, kritisiert, neu besprochen – privat, auf Straßen und Plätzen, in den Parlamenten, in den Medien. Auch wenn die politische Streiterei mitunter zu laut, zu selbstgerecht, zu kurzsichtig und zu eitel ist: Politischer gesellschaftlicher Streit ist ein gutes Zeichen für eine vitale Demokratie.
Demokratie heißt Pluralität. Nichts ist demokratiefeindlicher als Denken im Gleichschritt. Und noch eines sollten wir uns vergegenwärtigen: Zur Demokratie gehören Widersprüche und Gegensätze – eine Demokratie produziert sie dauernd.
Beispiel: Sie muss für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sorgen, darf aber die Freiheiten nicht zu stark einschränken. Sie rühmt sich, ein Schutzsystem der Freiheit zu sein, kann aber keine totale Freiheit gewähren. Das Dilemma ist nicht aufzulösen, sondern nur auszugleichen und auszuhalten. Demokratie ist auch die „Akzeptanz von Uneinigkeit“. Wie kein anderes politisches System braucht eine liberale Demokratie deshalb kluge Bürgerinnen und Bürger, die verstehen können, dass ein Widerspruch zwar ein Prinzip verletzen kann, aber es nicht ausschaltet. Das Prinzip der Freiheit gilt, auch wenn es aus guten Gründen keine totale Freiheit geben kann.
Vom ehemaligen Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt der berühmte Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“
Klingt kompliziert, ist aber einfach. Es geht dem Staat darum, dass alle Gruppierungen mit ihrem je eigenen, auch moralischen, Selbstverständnis zur Integration eines Teils der Gesellschaft beitragen. Denn aus eigener Kraft kann er diese Regulierung nicht garantieren, ohne zugleich seinen freiheitlichen Anspruch aufzugeben und Zwang auszuüben. Wie soll eine Gesellschaft sonst zusammenhalten? Nur durch ihre Gesetze und ihre Institutionen? Das ist zu wenig. Gesetze sind – vereinfacht gesagt – nur Spielregeln, ein Staat nur die Organisation gemeinsamer Interessen.
Eine Gesellschaft braucht also vor allem ausreichend Gemeinsamkeiten, um Gesetze, Spielregeln und Verbindlichkeiten festzulegen, sonst gibt es keine Gesellschaft, sondern nur eine Ansammlung von Menschen, die zufällig am gleichen Ort leben und sich um seine Ressourcen streiten. Es gilt dann das Recht des Stärkeren. Sie braucht ein Mindestmaß an Vertrauen – eine gemeinsame Art, Dinge zu tun, Geschichten (heute sagt man Narrative) zu erzählen, Informationen auszutauschen. Sie braucht ein kollektives Grundvertrauen.
Demagogen und Populisten erkennen und nutzen ihre Chance, die Demokratie zu schwächen. Sie zeichnen das Zerrbild einer kaputten Republik, die von Eliten okkupiert wird und überhöhen die Probleme der Demokratie zu Identitäts- und Existenzfragen. Sie kostümieren sich als Retter des Abendlands. Sie präsentieren einfache Feindbilder. Sie agieren in einem Ton der Demagogie und der Intoleranz, der Probleme nicht löst, sondern nur benutzt, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Und sie haben damit Erfolg.
Demokratie lebt von der Hoffnung, dass Dinge besser werden
Das Fatale: Die regierenden Parteien tragen dazu bei. Ihre Schwäche ist deren Stärke. Rechtspopulismus ist das Ergebnis permanenter Unterlassungen. Ob beim Thema Migration und Integration, Bildung und Bürokratie, Rente und Pflege, Klima oder Verkehr … – zu viele Versäumnisse und Vertröstungen, zu wenig politischer Willen und verlässliche Klarheit. Selten hat die Politik dem Volk so wenig Ehrlichkeit zugemutet, wie im gerade zu Ende gegangenen Wahlkampf.
Die Wahlergebnisse sind ein deutlicher Beleg dafür, dass viele Menschen den tragenden Parteien der Mitte die Lösung dieser Problemfelder nicht mehr zutrauen – sich abwenden, weil sie ihnen nicht mehr vertrauen, deutlicher – ihnen misstrauen. Wo Lebenswirklichkeit mit Marketing kollidiert, wenden sich Menschen ab. Wo der Alltag abgenutzte Slogans wie „Leistung muss sich wieder lohnen“ entzaubert und demaskiert, nimmt das Vertrauen in die politischen Parteien, mehr noch: in unsere Demokratie – massiv Schaden.
Kein guter Zustand, denn die Demokratie lebt auch von der Hoffnung, dass Dinge besser werden. Der Verlust von Zukunftsglauben ist ein Problem für die Demokratie. Wer immer Deutschland regieren wird, kann und darf der Wirklichkeit nicht mehr ausweichen. Wirklichkeit ist die einzige Ideologie, die wir uns noch leisten können.
Demokratie ist eine fragile Konstruktion. Wo Vertrauen fehlt, entsteht Enttäuschung und Rückzug – oder die Wahl heilversprechender populistischer Parteien. Ein hohes zweistelliges Votum für eine nationalistische, demokratieverachtende Partei sollte uns sorgen. Demokratien lösen sich nicht auf, weil Autoritäre so übermächtig sind, sondern daran, dass die Demokraten sich nicht angemessen zur Wehr setzen und leichtfertig dem Treiben zuschauen und tolerieren.
Unübersehbar ist, dass die radikalisierte Peripherie der Gesellschaft auch von Menschen der bürgerlichen Mitte besiedelt wird. Demokratie-Verachtung greift nicht nur an den Rändern – links wie rechts –, sondern zunehmend auch in der bürgerlichen Mitte. Wir müssen da aufpassen, was den demokratischen Himmel verdunkelt: Gesellschaften können Zivilität lernen – und verlernen. Es gibt einen Prozess der Ent-Demokratisierung, der nur schwer reversibel ist.
Es fällt schwer zu begreifen, wie Menschen einer rechtsradikalen, zum Teil rechtsextremistischen Partei ihre Stimme geben, die Gesetze und Instrumente unseres Rechtsstaats strategisch dazu benutzt, diese zu beschädigen und zu verhöhnen.
Nein, nicht alle, die diese Höcke-Partei wählen, sind „Nazis“ oder „Rechte“ – aber sie müssen sich vorwerfen lassen, rechtsradikale und rechtsextremistische Funktionäre mit weitreichenden parlamentarischen Legitimationen auszustatten. Wer Demokratie-Feinden und -Verächtern seine Stimme gibt, den sollten wir ausdrücklich in Mit-Haftung nehmen. Er schwächt unsere Demokratie.
Noch einmal: Toleranz und Respekt aber beginnen immer mit der Erfahrung des Anderen, der anderen Überzeugungen, der anderen Interessen, der anderen Auffassungen und Meinungen. Eine Toleranz, die nur das eigene gesellschaftliche und politische Gesichtsfeld respektiert, ist wertlos und öde.
Verteidigen wir also „das Andere“, die engagierte Gegenrede und die lebhafte, vitale Streiterei – jederzeit und allerorten, auch wenn es mitunter nervend und anstrengend ist. Und wenn wir danach sagen, es war gut, dass wir uns gestritten haben, auch wenn wir den anderen nicht überzeugt haben, dann hat es sich gelohnt. Nicht nur für uns.
Demokratie ist eine Zumutung, hieß es am Beginn dieses Textes. Wir sollten darin ein Zukunftsversprechen erkennen.
HELMUT ORTNER hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien, veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Heimatkunde – Falsche Wahrheiten. Richtige Lügen.“ (2024), „Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist“ (2024) und „Volk im Wahn – Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit“ (2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.