Wacht Deutschland auf?

„Kriegstüchtig“ soll die Bundeswehr werden, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Ende Oktober 2023 und entfachte damit in Deutschland zunächst eine Diskussion darüber, ob dieses Wort überhaupt in den Mund genommen werden darf. Wie so häufig werden Nebenkriegsschauplätze eröffnet, geht es um Wortklauberei, verschanzt man sich hinter einer im Laufe der Jahrzehnte gewachsenen, ach so bequemen ethisch-moralischen Haltung. Man kann auf dem hohen Ross sitzen, weil andere für Deutschlands Sicherheit sorgen oder bei militärischen Einsätzen die Kohlen aus dem Feuer holen.
Dabei hatte Pistorius völlig recht, die bequeme deutsche Gesellschaft und die Politik aufzurütteln. Die russische Bedrohung ist ganz konkret, es ist Gefahr im Verzug. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ignorierte geflissentlich das Thema Bundeswehr, die Verteidigungsfähigkeit und die notwendige Unterstützung der Ukraine nach dem russischen Überfall. Einziger Lichtblick waren kurz nach dem 20. Februar 2022 die „Zeitenwende“-Rede und das 100-Milliarden-Sondervermögen. Das konnte allerdings nur eine Anschubfinanzierung sein, wobei Scholz letztlich völlig offen ließ und auch nichts dafür tat, um die Fortsetzung der damit angeschobenen Projekte finanziell abzusichern. Kurioserweise kam er erst im kurzen Wahlkampf nach dem Scheitern der Ampel auf dieses Thema zurück. All jenen, die den Zustand der deutschen Verteidigungsfähigkeit kannten, war klar: Die 100 Milliarden reichen nicht. Die Wehrbeauftragte des Bundestags, die SPD-Politikerin Eva Högl, hatte in ihrem Jahresbericht 2022 statt 100 Milliarden Euro 300 Milliarden gefordert.
Falsche Versprechungen
Nach Scholz‘ Zeitenwende-Rede tickte die Uhr, aber erneut verging wertvolle Zeit, bis die unter schrecklicher bürokratischer Verstopfung und Unentschlossenheit leidende Bundesrepublik reagierte. Erst Ende des Jahres kam es zur notwendigen Verfassungsänderung für das Sondervermögen. Dann dauerte es nochmals, und schließlich „bestellte man das alte Eisen, das man in den Jahren vorher nicht bestellt hatte, die F-35, Haubitzen, Panzer und so weiter. Aber es war natürlich keine Investition in die Zukunft, wenn wir an Digitalisierung, an KI, an Drohnen denken“, sagte Sönke Neitzel im Oktober 2024 beim Symposium „Schicksalsgemeinschaft – Verlorener Frieden in Europa“ in Leipzig. Neitzel ist Militärhistoriker, angesehener Bundeswehr-Kenner und Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam.
Die deutsche Politik hatte der NATO schon vor dem Ukrainekrieg eine kaltstartfähige Division bis 2025 sowie zwei weitere Divisionen bis 2027 zugesagt, und „wir alle wissen, die Bundesrepublik wird diese Versprechungen nicht einhalten können.“ Neitzel nennt die Bundeswehr die vollendete Karikatur des deutschen Bürokratismus. „Mir würde keine Institution einfallen, wo wir mehr Bürokratie haben.“ Daran lässt sich auf die Schnelle auch nichts ändern. Zu festgefahren sind die Strukturen des Mit-sich-selbst-Beschäftigens und des Lieber-nicht-Entscheidens. Neitzel nennt gerne das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr in Köln. „Die haben 6.800 Stellen, mit denen sie 260.000 Soldaten und Zivilisten führen.“ Ähnliches gilt allerdings auch für das BAAINBw, also das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr, mit fast genauso vielen Beschäftigten. Immerhin, da hat sich inzwischen etwas zum Besseren getan. Aber das reicht noch nicht, denn jetzt sind schnelle Entscheidungen und Lösungen gefragt. Das deutsche Gefitzel mit „Goldrandlösungen“, die Beschaffungen um Jahre oder oft Jahrzehnte zurückwerfen, muss endlich aufhören.
Blanke Streitkräfte
Was für die Bundeswehr und das Sondervermögen gilt, trifft ähnlich auch auf die Ukraine-Hilfe zu. Es war ein Hin und Her, drei Schritte vor, zwei zurück wie bei der Echternacher Springprozession und geprägt vor allem von der Angst vor Entscheidungen. Das führte dazu, dass die Ukraine Material viel zu spät und oft nur in homöopathischen Dosen erhielt. André Wüstner, Vorsitzender des Bundeswehrverbands, sagte im ZDF zur derzeitigen Situation in Deutschland und Europa: „Das rächt sich hoffentlich nicht bitterlich.“
Der Inspekteur des Heers, Alfons Mais, hatte gleich zu Beginn des Ukraine-Kriege am 24. Februar 2022 mit der gnadenlosen Formulierung aufhorchen lassen, die deutschen Landstreitkräfte stünden mehr oder weniger blank da. Wüstner fand damals noch eine Steigerung: „Wir sind blanker als blank.“ Tatsächlich hat man vom übriggebliebenen Material der Bundeswehr einiges an die Ukraine abgegeben mit der Hoffnung, dass das natürlich umgehend ersetzt wird. Das war aber nicht der Fall. Die Umsetzung des Sondervermögens kam lange Zeit überhaupt nicht in Gang, und auch die Munitionsfrage kam im ersten Jahr des Ukraine-Kriegs nicht voran, obwohl nicht nur die Ukraine solche dringend benötigte, sondern auch die deutschen Streitkräfte – und das schon seit vielen Jahren. Aber nichts tat sich in den vergangenen zehn Jahren.
Verteidigung ist Verfassungsauftrag
Das 100-Milliarden-Sondervermögen stößt vieles an, aber es ist nur ein erster Schritt, der in den kommenden Jahren richtig unterfüttert werden muss. Sonst verpufft es, und viele Projekte müssen wieder ausgedünnt, gestreckt oder womöglich wieder eingestampft werden. Damit hat die Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten viele Erfahrungen sammeln dürfen. Das Dilemma begann schon in den 90er Jahren, als man die Landesverteidigung aus Sparsamkeitsgründen und weil Deutschland doch „nur noch von Freunden umgeben ist“ völlig vernachlässigte und sich auf begrenzte Auslandseinsätze zusammen mit anderen Partnern konzentrierte. Dabei ist die Landes- und Bündnisverteidigung ein Verfassungsauftrag.
Beim Einfahren der sogenannten Friedensdividende seit dem Ende des Kalten Kriegs wurde noch aktuelles Material – darunter auch das von der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) geerbte Material – in Massen verschrottet, verschenkt oder verkauft, darunter der Flakraketenpanzer Gepard, der jetzt in der Ukraine seine Fähigkeiten unter Beweis stellt. Wer Teile dieses Materials sehen will, kann vieles beim NATO-Partner Türkei in Aktion besichtigen, wenn türkische Truppen es gegen die Kurden einsetzen und um Kurdengebiete in Syrien zu okkupieren.
Von 495.000 Bundeswehrsoldaten im Kalten Krieg – zeitweise kamen noch 160.000 NVA-Soldaten dazu – schrumpfte das gesamtdeutsche Militär auf real heute noch 181.000 aktive Soldaten. Der richtige Einschnitt kam 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht. Damals stand Sparen im Vordergrund, und es war die unionsgeführte Merkel-Regierung, deren damaliger Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) die drängelnde FDP beim Wort nahm und die Aussetzung der Wehrpflicht wie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durchsetzen konnte. Heute kann man sich gar nicht mehr erklären, wie das überhaupt möglich war. Natürlich, mit einer am Ende nur noch wenige Monate umfassenden Wehrdienstzeit war die Wehrpflicht ad absurdum geführt worden. Heute ist man mit den 181.000 Soldaten – bei sinkender Tendenz – schon 22.000 Soldaten unter dem Soll. Wie soll da ein Aufbau womöglich noch über die Marke von 203.000 Soldaten hinaus vonstatten gehen?
Die Rückkehr der Wehrpflicht?
Wie soll angesichts dessen eine wirksame Abschreckung funktionieren? „Si vis pacem para bellum“ – „wenn du Frieden willst, bereite dich auf Krieg vor“. Der alte lateinische Spruch, der im Kalten Krieg gegolten hat, ist spätestens seit 2014, als Russland die Krim überfallen und Teile der Ostukraine durch „grüne Männchen“ besetzen ließ, wieder hochaktuell. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Bundeswehr zum Kampf bereit sein und diesen auch gewinnen können muss. Eine Schocktherapie für viele, die bisher gemütlich im Wohnzimmer die immer gefährlicher werdende Welt draußen vorüberziehen ließen und meinten, sie säßen vor einem Computerspiel.
Der frühere SPD-Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels ist einer, der schon immer gerne den Finger in die Wunde gelegt hat und wahrscheinlich deshalb bei den Soldaten so beliebt war. Nur leider nicht in der eigenen Partei, die sich sicherheits- und verteidigungspolitischen Realitäten aus einer falsch verstandenen Tradition heraus in weiten Teilen noch immer verschließt. Sie hat ihn fallen gelassen und mit Eva Högl eine Nachfolgerin installiert, die mit ihren Ansichten aber letztlich nicht weit von Bartels entfernt ist. Das war von der SPD-Linken so nicht geplant.
Inzwischen ist vielen Experten und Militärs klar, dass eine Rückkehr zu einer Dienst- beziehungsweise Wehrpflicht die einzige Lösung ist, um das unter den Nägeln brennende Problem der sich immer weiter öffnenden Personallücke zu lösen. Zunächst einmal: Die Wehrpflicht ist nicht abgeschafft, sondern ausgesetzt. Die Zahl von 203.000 Soldaten soll nach letzten Planungen bis 2031 erreicht werden. Heute, nachdem der US-Präsident die gesamte westlich dominierte Ordnung – auf Neudeutsch: regelbasierte Ordnung – über den Haufen wirft, mutet vor allem diese zeitliche Dimension lächerlich und geradezu fahrlässig an. Da könnte Putin schon längst im Krieg gegen die NATO stehen – und dann? Kaum Soldaten, so gut wie keine Reservisten, zumindest keine, auf die man zurückgreifen kann. In ihrem vor wenigen Tagen vorgestellten aktuellen Jahresbericht hat die Wehrbeauftragte noch einmal auf die gravierenden Probleme der Bundeswehr und die katastrophale Personallage hingewiesen.
Bartels hatte sich spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 dafür starkgemacht, zur Wehrpflicht zurückzukehren. Mit einer Mischung aus Berufs- und Zeitsoldaten sowie wenigen freiwillig Wehrdienstleistenden ist das, was heute auf die Bundeswehr zukommt, nicht mehr zu leisten. Alle teuren Kampagnen, mit denen Bürger zur Bundeswehr gelockt werden sollten, schlugen nicht an. Die Warner von damals bei der Aussetzung können sich heute bestätigt fühlen – aber das hilft jetzt nicht mehr weiter. Der Kommandeur Feldheer, Generalleutnant Harald Gante, hält die Wehrpflicht für notwendig. Dabei werde es nicht ausreichen, sich auf Freiwilligkeit zu verlassen. Dies gelte auch für die Reserve.
Noch bis zuletzt hatte die Ampelregierung die Wehrpflicht abgelehnt. Pistorius, der die Notwendigkeit erkannt hat und das schwedische Modell als Möglichkeit ins Auge gefasst hatte, wurde vom Kanzler zurückgepfiffen. So blieb am Ende eine lächerlich anmutende Fragebogenaktion übrig, die alle 18-jährigen Männer erhalten sollten. Für die jungen Frauen ist die Beantwortung der Fragen freiwillig. Scholz hat, gebremst vom starken linken SPD-Flügel um Fraktionschef Rolf Mützenich, der es schon unter Kanzlerin Merkel geschafft hatte, viele Jahre lang die Anschaffung von Drohnen und insbesondere bewaffneten Drohnen zu verhindern, das Thema Wehrpflicht ignoriert. Wieder verlorene Jahre. Denn sollte die Wehrpflicht noch in diesem Jahr wieder eingesetzt werden, würde es bis mindestens 2027 dauern, bis erste Rekruten fertig ausgebildet wären – vorausgesetzt, dass der Aufbau des Ausbildungssystems und die Modernisierung von Kasernen schnell angepackt wird. Doch die Worte schnell, bevorzugt oder vereinfacht kennt die Bürokratie nicht. Wenn es nach dem künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz geht, sollen dem Amt viele Befugnisse genommen werden, um tatsächlich eine zeitnahe Zeitenwende realisieren zu können.
Bartels hält eine modifizierte, also an die neuen Gegebenheiten angepasste Wehrpflicht, für unerlässlich. Er spricht von einer Auswahlwehrpflicht, das bedeutet: alle erfassen und mustern, die Tauglichen fragen, ob sie auch kommen wollten, und von den Tauglichen und Willigen nach Eignung und Bedarf eine bestimmte Anzahl für 12 oder 15 Monate einziehen, so Bartels. Also im Prinzip das, was Pistorius vorschwebte. Das Ziel der Freiwilligkeit könne nur gelten, wenn es so auch aufgehe. „Wenn nicht, gilt die klassische Pflicht“, so Bartels. Das Ziel sollten statt bisher 20.000 in Zukunft 40.000 Rekruten pro Jahr sein, aus denen nach Erfahrungen etwa 10.000 Zeitsoldaten zu gewinnen seien.
Obergrenze im Zwei-plus-vier-Vertrag
Für Bartels ist klar: Aus dem Sondervermögen und in der Hoffnung auf wachsende Haushaltsmittel in den kommenden Jahren wurden einige große Modernisierungsprojekte gestartet und erste Nachbestellungen in Auftrag gegeben, während der Bundeswehretat bei 1,3 Prozent des BIP im Prinzip bei rund 50 Milliarden Euro eingefroren blieb. Nötig wären aber nicht 2 Prozent, sondern mindestens 2,5 Prozent. Die Bundeswehr sollte die Zahl der Heeresbrigaden nahezu verdoppeln. Dazu zählt dann auch die Litauen-Brigade, deren Finanzierung aber nach wie vor nicht hundertprozentig abgesichert ist.
Das Scheitern der Appeasement-Politik gegenüber Moskau und die verteidigungspolitischen Zögerlichkeiten der letzten Jahre verstärken den Handlungsdruck in Berlin. Die Bundeswehr muss schnell aufwachsen, voll ausgestattet und verteidigungsbereit werden. Dazu benötigt sie mindestens 250.000 Soldaten, die Wehrpflicht und vermutlich sogar 3 bis 4 Prozent des BIP für das Verteidigungsbudget. Das alles ist aber noch immer ein Bruchteil jener Kosten, die mit einem Krieg verbunden wären, einmal ganz abgesehen von unendlichem Leid und Zerstörungen. Daran mag man nicht denken, aber man sollte sich das vor Augen halten – zu besichtigen in der Ukraine. Mit Blick auf die neue Realität nach Trumps jüngsten Äußerungen und seinem Verhalten gegenüber der Ukraine wird man bei der Bundeswehr sogar an die im Zwei-plus-vier-Vertrag Der 1990 in Moskau abgeschlossene „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ ist ein Staatsvertrag zwischen der BRD und der DDR auf der einen und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs (USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien) auf der anderen Seite. Dort wurde unter anderem folgendes festgelegt: 1. Die endgültigen mitteleuropäischen Grenzen und damit das Staatsgebiet des vereinten Deutschlands mit der Erklärung, dass Deutschland keine Gebietsansprüche an andere Staaten stellt. 2. Die Personalstärke der deutschen Streitkräfte auf 370.000 Personen mit der Erklärung, dass Deutschland auf die Herstellung, die Verfügung über und den Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen verzichtet. 3. Eine Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland bis 1994 und das Recht, Bündnissen anzugehören. festgehaltene Obergrenze für deutsche Streitkräfte von 370.000 Soldaten gehen müssen.
Die Zahl der Bundeswehr-Kampfpanzer sank von 4.600 im Kalten Krieg auf jetzt 330. Es ist kaum noch Artillerie da, es gibt keine Heeresflugabwehr mehr, nur noch sechs teilweise einsatzbereite U-Boote, zu wenig Raketenabwehr, keine Kampfdrohnen, keine Drohnenabwehr. Die Bundeswehr ist zum Weltmeister der Mängelverwaltung geworden. Extrem ist der Mangel an Munition und bei Ersatzteilen. Natürlich kann die deutsche und europäische Rüstungsindustrie die meisten Waffensysteme selbst herstellen. Aber das dauert, und die Zeit fehlt. Daher muss vieles dort beschafft werden, wo es verfügbar ist, das heißt auf dem Weltmarkt und da vor allem in den USA. Das unter anderem erhofft sich Trump von seiner irrlichternden Politik, mit der er den Europäern Angst macht: buy american. Christian Mölling, der frühere Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und heutige Direktor im Programm „Europas Zukunft“ der Bertelsmann-Stiftung, nennt die Fähigkeitslücken der Bundeswehr zahlreich. Ohne die Amerikaner fehle es an Aufklärung und Zielerfassung. Es fehlten Drohnen und Marschflugkörper. Und selbst wenn die Bundeswehr nun neue Flugabwehrsysteme erhält, dann seien das nach wie vor zu wenige.
Für die Rüstungsindustrie ist es wichtig, Planbarkeit zu bekommen, also konkrete Bestellungen und die Gewissheit, dass es mit einem Auftrag, beispielsweise bei 155-Millimeter-Granaten, nicht vorbei ist. „Wenn wir wirklich in ganz erhebliche Investments gehen, um nochmal den Output zu vervielfachen, dann reden wir über Größenordnungen, die wirklich nur vor dem Hintergrund einer klaren Ansage unserer Kunden – also in unserem Fall der Bundesregierung – möglich sind“, sagt Hans Christoph Atzpodien gegenüber der Zeitschrift Europäische Sicherheit. Atzpodien ist der Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.
Dampf aus Brüssel
Sönke Neitzel warnt, ein Krieg mit Putins Russland könnte früher kommen als bislang erwartet. „Wartet Putin, bis wir verteidigungsbereit sind? Möglicherweise nicht. Also die Zeit läuft uns davon.“ Deutschland ist seiner Meinung nach in einem Szenario wie in der Ukraine nicht kriegstüchtig und darauf nicht vorbereitet.
Wertvolle Zeit ist in den vergangenen Jahren sehenden Auges vertändelt worden. Die Forderung, dass Europa mehr Verantwortung übernehmen müsste, ist seit 2014 vielfach gestellt worden. Passiert ist wenig, so Neitzel: „Und deswegen ist nochmal mein Appell an die Politik und an die Entscheider: Ihr betreibt ein Vabanquespiel, ihr gambelt. Euer Einsatz am Roulette-Tisch ist: Es wird nicht zu einem Krieg kommen. Dann komme ich durch, dann muss ich nicht groß investieren, da muss ich nicht an die politische Schmerzgrenze gehen, ich vermeide das. Das kann gutgehen, keiner von uns kann die Zukunft voraussagen. Wenn es schiefgeht, steht ihr an den Gräbern. Macht euch das klar: Ihr werdet an den Gräbern stehen.“
Man müsse jetzt konkret Fähigkeiten beschaffen, um möglicherweise wegfallende Fähigkeiten der Amerikaner ersetzen zu können. Es sei eine breite Koalition europäischer Staaten notwendig, sagt Carlo Masala, Professor an der Bundeswehruniversität in München. Er hofft auf einen erwachenden Selbstbehauptungswillen Europas. Immerhin hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen innerhalb der EU mit einem 800-Milliarden-Euro-Paket Dampf gemacht. Was davon am Ende übrig bleibt, wird sich zeigen.
Masala hatte schon längst die Einführung eines zusätzlichen Solidaritätszuschlags für Verteidigung und ein Aussetzen der Schuldenbremse als Lösungsansätze genannt. Auch ein weiteres, dann aber 300 Milliarden Euro umfassendes Sondervermögen, wie es beispielsweise die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) forderte, gehört zu den Vorschlägen. „Ich glaube, wir müssen alle Instrumente nutzen, um diesen enormen Finanzbedarf, der auf uns zukommt, auch decken zu können“, so Masala weiter. Die politische Führung müsse den Deutschen erklären, warum es wichtig ist, sich außen- und sicherheitspolitisch neu auf- und einzustellen sowie die Bundeswehr nachhaltig zu finanzieren und auszustatten. Das aber hat Olaf Scholz bewusst unterlassen. In der SPD hatte sich offenbar die Auffassung breit gemacht, den Bundesbürger mit einer solchen Diskussion zu überfordern. Das kam dann bei Scholz arrogant herüber: Ich weiß was, aber ich sage es euch lieber nicht. Hartnäckig hält sich bis heute auch die Auffassung, Putin habe in den Telefonaten mit Scholz dem Kanzler Angst gemacht.
Französischer Nuklearschirm und deutsche Signalwirkung
Seit seiner Sorbonne-Rede 2017 ist der neue französische Präsident Emmanuel Macron mit seinen Vorschlägen zuerst von Kanzlerin Merkel und dann von Kanzler Scholz ignoriert worden. Es musste Friedrich Merz kommen, um plötzlich gehört zu werden. Merz hält viel von Macrons Idee, dass Deutschland und weitere Europäer unter den französischen Nuklearschirm schlüpfen. Deutschland selbst besitzt keine Atomwaffen, ist aber über die sogenannte nukleare Teilhabe dabei. Sie ermöglicht es Deutschland und weiteren europäischen NATO-Mitgliedern, US-amerikanische Atombomben einzusetzen. In Deutschland sollen 15 bis 20 solcher B61-Bomben lagern.
Frankreichs „Force de Frappe“ genanntes, allerdings nur strategisches nukleares Arsenal umfasst 290 Sprengköpfe. Das Manko: Frankreich hat keine taktischen Atomwaffen, was heißt, wenn Frankreich den US-Atomschirm und deren Eskalationsskala ersetzen wollte, müsste es sein Arsenal um taktische Waffen erweitern. Das geht nicht von heute auf morgen. Außerdem fehlt ein umfassendes Frühwarn- und Aufklärungssystem, um zu erkennen, dass man angegriffen wird und um reagieren zu können. Das alles erfordert ausgiebige Gespräche, zumal Macron – wie nicht anders zu erwarten – niemals auf die alleinige Entscheidungshoheit verzichten würde.
Nach der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 einigten sich die CDU/CSU unter Wahlsieger Friedrich Merz und die SPD angesichts der erratischen Politik von Donald Trump auf ein gigantisches Schuldenprogramm von rund einer Billion Euro, aufgeteilt in Finanzmittel für die Aufrüstung der Bundeswehr sowie ein Strukturprogramm. Das soll noch der alte Bundestag absegnen. Aber die Grünen als Wahlverlierer und die FDP, die das Ampelbündnis in der Hoffnung hat platzen lassen, auch im nächsten Bundestag vertreten zu sein und dort zu einer Koalition mit der Union zu gehören, blocken nun ab. Alle versteifen sich auf das unselig lange Festhalten von Merz an der Schuldenbremse, von der er aber wusste, dass sie nicht zu halten sein würde. Denn kurz nach der Bundestagswahl war dann davon keine Rede mehr. Mit dem Strukturprogramm soll zusätzlich nicht nur die zivile Resilienz gestärkt werden, sondern auch die Wirtschaft angekurbelt werden. Beides hatte die alte Bundesregierung in sträflicher Weise verabsäumt.
Dabei muss allen klar sein, dass diese Billion Euro auch ein gewaltiges Signal für Europa insgesamt wird. Es wäre das Signal, auf das Europa seit dreieinhalb Jahren wartet.
JÜRGEN RAHMIG ist seit 40 Jahren Zeitungsredakteur mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik sowie Verfasser von Büchern zum politischen Zeitgeschehen. Er berichtet aus Krisengebieten und ist seit 25 Jahren regelmassig auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu Gast. In seinem Buch „Der Kampf ums Wasser“ (S. Hirzel Verlag) beleuchtet Jürgen Rahmig die Konflikte rund um die Ressource Wasser im 21. Jahrhundert.