Wagnis Freiheit
Eine Wanderung von Sebastian Junger zu Ernst-Wolfgang Böckenförde.
Freiheit ist für die meisten Menschen, ohne dass sie es bemerken, ein unverständliches Konzept – für den Rest ein schwieriges. Gerade jene, die sich intensiver mit Freiheit beschäftigen, nehmen mehr Begrenzungen in all ihren Facetten wahr als jene, die meinen, nahe am Optimum persönlicher Freiheit zu leben. Letztere ziehen Vergleiche mit anderen politischen und kulturellen Regimen heran, fühlen sich relativ gesehen frei, navigieren innerhalb des Rahmens gesellschaftlicher und gesetzlicher Normen und berühren diesen nur in seltenen Fällen. Nicht selten argumentieren sie, dass Freiheit nur durch diesen Rahmen überhaupt gewährleistet werden kann. Sie wollen die Freiheit umhegen, in der Bahn halten, sodass das Individuum nicht auf die falsche Spur gerät. Zu dulden fällt ihnen – auch wenn sie gerne von Toleranz sprechen – schwer; sie brauchen die Strukturen gelenkter Freiheiten und wollen diese auch dem Rest der Gesellschaft überbinden. Sie halten es für den Ausdruck individueller Selbstbestimmung, wenn Menschen sich beispielsweise freiwillig für das Tragen religiöser Verhüllung entscheiden; Schwangerschaftsabbrüche sollen aber im Strafgesetzbuch behandelt werden. Die Schnittmenge dieser Haltungen mag gering sein, und doch übersehen ihre Träger beide, dass sie die Unfreiheit jener, die diese Selbstbestimmung nicht ausleben können, damit verlängern. Das Beispiel lässt sich analog auf andere Formen der Ausdrucksfreiheit, Überwachung, unternehmerische Freiheiten und vieles mehr übertragen. Die Integration von Unterdrückung in ihren Freiheitsbegriff löst bei ihnen keinerlei kognitive Dissonanz aus, sondern einen beruhigenden Lenkungseffekt.
Circa from Jersey to Pittsburgh
Sich frei in der Welt bewegen zu können, ist nicht viel mehr als eine Illusion, weil uns auch hier Grenzen gesetzt werden, die wir üblicherweise nicht wahrnehmen. Ein Land wie etwa die USA querfeldein zu durchmessen, stellt im 21. Jahrhundert eine große Herausforderung dar. Will man öffentliche Straßen vermeiden, ist eine dauerhafte Besitzstörung unvermeidlich, gerade die praktisch zu verfolgenden Bahntrassen sind in Nordamerika fast ausschließlich in privatem Eigentum und dürfen nicht betreten werden. Der amerikanische Publizist Sebastian Junger beschreibt in seinem Essay „Freedom“ (2021) seinen Marsch durch einige nordöstliche Bundesstaaten. Junger und seine Weggefährten gehen entlang Bahnstrecken, schlafen unter Brücken und freiem Himmel, trinken aus Flüssen und Bächen und entzünden Feuer im Schutz der dergestalt wirkungslos gewordenen Dunkelheit. Das romantisch verklärte Bild eines Wandertags mit dem Fähnlein Fieselschweif wird schnell von Beschreibungen sengender Hitze, nächtlichen Wolkenbrüchen und unangenehmen Begegnungen mit anderen Menschen verdrängt. Die Schilderung des Marsches bildet in Jungers Essay aber nur die Rahmenhandlung für eine Reflexion über das Spannungsfeld individueller und kollektiver Freiheit, die in einem unauflöslichen Widerstreit stehen. Er orientiert sich in seinen Beispielen an der Topologie seiner Route. Er erzählt von der Lebensweise amerikanischer Eingeborener, Apachen, Irokesen, ihren Freiheiten, ihren Auseinandersetzungen untereinander, mit europäischen Migranten und deren Nachkommen. Dabei spannt Junger einen Bogen zur Gründung der Vereinigten Staaten und der Verschriftlichung einer Verfassung, die in der Normierung individueller Freiheiten noch heute weltweit weitgehend beispiellos bleibt. Auch das beste Grundgesetz kann immer nur ein Kompromiss zwischen dem Kollektiv und dem Individuum sein. Politische Macht ist in der Demokratie vorübergehend. Die in der Repräsentanz aggregierten Stimmen sind nur geborgt.
6. Jänner 2021
“If democratic power-sharing is a potent form of freedom, accepting an election loss may be the ultimate demonstration of how free you want to be. History is littered with fascist leaders who have rigged elections and tortured or killed critics, but their regimes are remarkably short-lived.”
Mit den faschistischen Führern bezeichnet Sebastian Junger zwar weder den sozialistischen Präsidenten Venezuelas Nicolás Maduro noch Donald Trump, aber deren Entschlossenheit, die Umdeutung demokratisch zustande gekommener Wahlergebnisse mit Betrug anzustreben und Staatsstreichen in Kauf zu nehmen, steht dieser Zuschreibung nicht um vieles nach.
“At the heart of most stable governments is a willingness to share power with people you disagree with – and may even hate. That is true for small-scale societies like the Apache and Iroquois as well as for large-scale democracies like the United States. When American legislators granted unions the right to bargain as equals with the heads of industry, they were effectively saying that the people who owned the machines would have to start sharing power with the people who ran them, and that values like fairness and human dignity were going to determine at least some of the rules of the game.”
Die Einsicht Jungers, dass Politik ein permanenter Verhandlungsraum ist und keine Diktatur auf Zeit, mag banal sein. Sie ist aber auch in der vermeintlich politisch interessierten Öffentlichkeit kaum anzutreffen. Zum Erhalt größtmöglicher Freiheit in einem gesellschaftspolitischen System, das den Interessenausgleich gleichberechtigter Individuen als Werkzeug dazu sieht, gehört Kompromissbereitschaft und Duldung – nicht aber Akzeptanz – abweichender oder gegensätzlicher Meinung und eines gewissen Ausmaßes der Beschränkung persönlicher Freiheit.
Autor Sebastian Junger (© Peter Foley)
Diese Grundhaltung darf auch als Teil einem Wertebündel zugerechnet werden, das die unglückliche Bezeichnung Leitkultur trägt. An dieser Stelle erlaube ich mir, das Böckenförde-Diktum hervorzukramen, das üblicherweise von katholischen Politikern bemüht wird, um trugschlüssig zu erklären, warum Religion (gemeint ist immer und ausschließlich die katholische) zur Konstituierung von gesellschaftlich geteilten Grundwerten notwendig ist.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.”
In der Regel wird das Zitat hier gerne abgeschnitten, um folgende Hypothese zu implizieren: Das Christentum erschafft und garantiert diese Werte. Damit wird auch klar, warum die politisch-konservative Sichtweise auf den Begriff der Leitkultur auf christlich geprägte Werte und Tradition gelenkt wird.
Demokratisches Risiko
Tatsächlich geht das Zitat aber weiter:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Ernst-Wolfgang Böckenförde steht damit in der Tradition der Aufklärung, die jede moralische Überformung der Demokratie zurückweist und – damit schließt sich der Kreis zu Sebastian Junger – das Wagnis eingeht, die individuelle und politische Freiheit so weit zu maximieren, dass die Freiheit selbst in Gefahr gerät, indem sie die Macht streckenweise in Hände legen kann, die damit nicht sorglich umgehen. Solange dieses Pouvoir auch abgewählt werden kann, bleibt die Freiheit im Trockenen. Das Problem besteht oft vielmehr darin, dass auch dem Souverän wenig darin liegt, seine Freiheit zu verteidigen.
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.