(Wann) greift Russland die NATO an?
Russland sieht sich schon längst im Krieg mit der NATO – auf allen Ebenen unterhalb des scharfen Schusses. Dazu gehört es, die NATO-Allianz auszutesten. Das geschieht schon seit Jahren und in zunehmendem Maße. Der Drohnenüberfall in Polen im September kam einem richtigen Angriff schon sehr nahe.
Immer öfter und immer eindringlicher warnen Experten und führende Militärs. Der österreichische Militärexperte Gustav Gressel sagt, dass dieser NATO-Krieg mit „100 Prozent Wahrscheinlichkeit“ kommen wird. Der Grund: Europa ist unvorbereitet. Der Hauptlehroffizier und Forscher an der Landesverteidigungsakademie des Bundesheers in Wien steht mit seiner Meinung keineswegs allein da. Die Drohnen und Cyberattacken, die in den vergangenen Wochen zahlreiche europäische Flughäfen zum Teil tagelang lahmgelegt haben, und gleichzeitig die unfassbare Hilflosigkeit der Behörden, scheinen Gressels Aussage zu bestätigen.
Europa hat seit 2014, als „grüne Männchen“ – also russische Spezialkräfte ohne Hoheitszeichen – die Ostukraine und die Krim besetzten, wertvolle Jahre verstreichen lassen. Seitdem testet Moskau die Verteidigungsbereitschaft der NATO und die Resilienz der Gesellschaften in diesen Staaten. Die Tests dürften für den Kreml ziemlich aufschlussreich sein – und könnten ihn dazu verleiten zu glauben, dass die NATO im Ernstfall uneinig, unentschlossen und feige sein wird.
Hybride Kriegsführung
Die russischen Drohnen, die Mitte September bis tief in polnisches Gebiet hineingeflogen sind, überraschten und schockierten viele Menschen im Westen. Diese 19 Drohnen waren nicht die ersten, nur nahm man vorher zumeist an, dass es Irrläufer oder außer Kontrolle geratene Flugobjekte waren. Die Sicherheitsexpertin Claudia Major sieht darin inzwischen eine russische Strategie des Austestens von Grenzen sowie der hybriden Kriegsführung.
Fast täglich prüfen die russischen Militärs auf unterschiedlichste Art und Weise den Westen und die NATO – im Internet oder mit Militärmaschinen, die „versehentlich“ in den NATO-Luftraum eindringen oder sich unerlaubt nahe an andere Flugzeuge sowie Schiffe heranwagen. Schon seit in Deutschland ukrainische Soldaten ausgebildet werden, sind Kasernen und Truppenübungsplätze beliebte Ziele zur Ausspähung durch Drohnen.
Die Drohnen in Polen sollten die NATO-Luftabwehr und ihre Schnelligkeit und Effektivität testen, und sie dürften Moskau einige Erkenntnisse über den Zustand der NATO-Flugabwehr geliefert haben. Die eingedrungenen Drohnen wurden mit polnischen und niederländischen Kampfflugzeugen F-16 und F-35 sowie deutschen Patriot-Flugabwehrsystemen bekämpft. Wirklich erfolgreich war man nicht: Immerhin sind die Drohnen teilweise über 250 Kilometer weit in den NATO-Luftraum eingedrungen. Zum anderen sind nicht alle 19 Drohnen abgeschossen worden. Ein anderer Aspekt: Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Es ist wenig effektiv und auf Dauer viel zu teuer, billige Drohnen mit Raketen zu bekämpfen, die zwischen 15.000 und 400.000 Euro das Stück kosten.
Grauzone zwischen Krieg und Frieden
Doch nach wie vor wollen nicht wenige Politiker und auch Parteien, ebenso wie weite Teile der Bevölkerung, die Gefahren nicht wahrhaben, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Der Kreml kann sich offensichtlich darauf verlassen, dass die EU- und die NATO-Staaten selbst dann den Ernst der Lage nicht erfassen, wenn er offensichtlich ist. Das alles muss den Machthaber im Kreml geradezu ermuntern, es zu versuchen.
Die NATO-Länder tun sich schwer mit Antworten. Der Grat zwischen ernsthafter Warnung und Panikmache ist ebenso schmal wie die Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Es ist erschütternd, wie wenig die Warnungen noch immer zur Kenntnis genommen werden. Der deutsche 3-Sterne-General Joachim-Jürgen von Sandrart befehligte vom polnischen Stettin aus bis Ende 2024 das Multinationale Korps Nord-Ost. Sandrarts Truppen in Polen und im Baltikum befinden sich an der möglichen Frontlinie, wenn Russland die baltischen Staaten angreifen würde. In der Zeitung Die Welt warnte er, Moskau habe das Potenzial, einen weiteren Konfliktherd zu entfachen. „Diese Bedrohung ist existent. Und sie wächst mit jedem Tag.“ Er spricht von einem Wettlauf gegen die Uhr.
Warum sollte Putin so lange warten
Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr, und Jan Christian Kaack, Inspekteur der Bundesmarine, halten einen russischen Angriff bis spätestens 2029 für denkbar. Die große Frage ist: Warum sollte Putin warten, bis im Westen die Rüstungs- und Munitionsproduktion hochgefahren ist und auf vollen Touren läuft? Dann wird Europa weit mehr Rüstungsgüter als Russland produzieren. Putin hat aktuell bei der Produktion noch die Nase vorn, denn Moskau hat das Land auf Kriegswirtschaft umgestellt. Bessere Erfolgsaussichten – das dürfte auch der Kreml-Chef wissen – hat er, wenn er vorher zuschlägt, also beispielsweise schon 2027. Das aber traut sich kaum jemand öffentlich auszusprechen. Niemand möchte Panik machen, deshalb wird lieber nicht darüber gesprochen. Schließlich müsste man dann auch eklatante Fehleinschätzungen, gravierende Fehler und Versäumnisse einräumen.
Angesichts der warnenden, Wladimir Putin aber nicht sonderlich erschreckenden Worte von NATO-Generalsekretär Mark Rutte und den eher harmlosen Reaktionen auf die Drohnenangriffe in den einzelnen NATO-Staaten fühlt sich der russische Potentat zu immer frecheren, dreisteren und gleichzeitig gefährlicheren Tests ermutigt. Politiker im Westen dürfen nicht erneut den Fehler begehen und Putins Entscheidungen nach eigenen Maßstäben und Rationalität bemessen. Dieser schätzt die Lage anders ein, das gilt ganz offensichtlich auch für die russische Stärke. Hinzu kommt, dass er darin noch von den Geheimdiensten und Beratern in ähnlicher Weise belogen wird, wie das schon im Vorfeld des Ukraine-Angriffs 2022 der Fall war.
Die „kleinen grünen Männchen“
Unwahrscheinlich ist aber, dass die Vorbereitung eines solchen Angriffs unentdeckt bleibt, es sei denn, sie wäre wieder als großes Manöver „getarnt“, welches der Westen nicht ernst nimmt. Die normalerweise in den Grenzregionen zum Baltikum stationierten russischen Bodentruppen und ihr Material sind derzeit allerdings in der Ukraine im Einsatz. Das gelte jedoch nicht für die russische Luftwaffe und die Marine, die in der baltischen Region weiterhin voll handlungsfähig seien, sagen die scharf beobachtenden Militärs in den baltischen Staaten.
Bruno Kahl, bis vor wenigen Wochen noch Chef des Bundesnachrichtendiensts, warnte: Möglich wäre ein Test, bei dem beispielsweise „kleine grüne Männchen“ in baltische Länder eindringen, unter dem Vorwand, russische Minderheiten zu schützen. Ein solches Szenario gab es schon in der Ostukraine und auf der Krim. Wie würde das NATO-Bündnis dieses Mal darauf reagieren? Eskalieren oder zögern?
Eine Frage, die europäische NATO-Mitglieder im Zusammenhang mit dem US-Atomschirm schon seit Jahren beschäftigt – und ganz speziell seit Donald Trump US-Präsident ist –, stellt sich nun auch im Zusammenhang mit einer konventionellen Herausforderung: Wäre die NATO, wären ihre Mitglieder bereit, für Estland, für Lettland oder für Litauen den Beistandsartikel 5 auszurufen? Wären sie bereit, gegen Russland in den Krieg zu ziehen, wenn eines dieser kleinen NATO-Mitglieder angegriffen wird? Ist Verlass auf die Europäer, und ist Verlass auf die USA? Werden die Ungarn, die Slowaken, die Türken hinter der Beistandspflicht stehen?
Wie steht es um die Einheit der NATO und ihren Zusammenhalt, wo lässt sie sich spalten? Statt eines Großangriffs auf die NATO muss viel eher mit solch einem „Test“ gerechnet werden, bei dem Russland tatsächlich NATO-Territorium besetzen will.
Die NATO ist (noch) nicht gut aufgestellt
Sollte sich der Westen entschließen, der Ukraine die Waffen zu geben, die sie benötigt, um Russland aufzuhalten und sogar einen Teil des verlorengegangenen Staatsgebiets zurückzuholen, wird es für Putin gefährlich, die NATO durch einen Angriff im Baltikum herauszufordern. Wenn es den Europäern gelänge, die Ukraine zu erhalten und zu ertüchtigen, so Gressel, hätte das abschreckende Wirkung für spätere „Abenteuer“. Das Versäumnis Europas, in militärische Fähigkeiten zu investieren, sendet nach Meinung der EU-Außenbeauftragten und estnischen Ministerpräsidentin bis 2024, Kaja Kallas, allerdings ein gefährliches Signal an den Aggressor. Schwäche lade ihn ein, so Kallas. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel nennt in der Zeitung Die Zeit die Jahre bis zur vollen Verteidigungsfähigkeit der NATO die gefährlichste Phase. Gefährlich sei auch ein Waffenstillstand, weil Russland seine Rüstung auf vollen Touren weiterlaufen und damit die Bestände schnell wieder ergänzen würde.
Europa muss kriegsfähig und kriegsbereit sein, um dies abzuwenden. Dazu gehören nicht nur Waffenkäufe, sondern strukturelle Veränderungen, ausreichend Personal und Reserven und der gesamtgesellschaftliche Ansatz. Da sieht Gressel ziemlich schwarz: Die Europäer hätten weder strategische Unabhängigkeit von den USA bewiesen noch militärische Härte gezeigt.
Wie vieler Warnschüsse bedarf es noch?
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte nach dem Dohnenvorfall in Polen gesagt, das Bündnis werde sich „besonnen und nicht eskalierend“ verhalten. Und er wiegelte ab, schließlich habe es sich zwar um eine Attacke auf den Luftraum gehandelt, nicht aber um einen Angriff im militärischen Sinn. Abgesehen davon, dass man den Luftraum nicht attackieren kann, stellt sich wohl auch für Putin die Frage, wo eigentlich bei Pistorius die Grenze zu einem „Angriff im militärischen Sinn“ liegt? Der russische Machthaber wird es austesten.
Beobachter sehen eine ganze Reihe von Aspekten, die auf Kriegsvorbereitungen beziehungsweise einen Angriff auch auf die NATO hindeuten könnten. Das sind weiter steigende Militärausgaben und neue russische Militärbezirke, und das ist unter anderem die Anhebung des Höchstalters von grundwehrdienstpflichtigen Männern von 27 auf 30 Jahre. Zuletzt hat Russland weitere 135.000 junge Männer einberufen. Das alles ist nicht alleine durch den Ukraine-Krieg bedingt.
Noch ein letzter Aspekt zu diesem komplexen Thema sei kurz angerissen. Der deutsche Politikwissenschaftler Joachim Krause sieht im Bündnis zwischen Moskau und Peking derzeit eine existenzielle Herausforderung für den Westen – ordnungspolitisch, indem sie die internationale Ordnung zerstören, und natürlich militärisch. Es seien nicht nur regionale Kriege, auf die sich die Europäer einstellen sollten. NATO-Generalsekretär Rutte spricht auch davon, dass Russland und China ihre Vorgehensweise absprechen. Während China Taiwan angreift und damit die USA militärisch herausfordert und bindet, macht Russland dasselbe im Baltikum, in Polen, Finnland oder Schweden. Eine kluge Politik muss all diese Möglichkeiten mit ins Blickfeld nehmen.
JÜRGEN RAHMIG ist seit 40 Jahren Zeitungsredakteur mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik sowie Verfasser von Büchern zum politischen Zeitgeschehen. Er berichtet aus Krisengebieten und ist seit 25 Jahren regelmäßig auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu Gast. In seinem Buch „Der Kampf ums Wasser“ (S. Hirzel Verlag) beleuchtet Jürgen Rahmig die Konflikte rund um die Ressource Wasser im 21. Jahrhundert.