Wie liberal ist … Budapest?
Eine lange gemeinsame Geschichte verbindet Budapest mit Österreich – so gibt es nach wie vor gültige Gesetze, die nicht etwa in Wien, sondern in Budapest gezeichnet wurden. Dabei handelt es sich um eine der jüngeren europäischen Hauptstädte: Budapest als Vereinigung von Buda und Pest wird heuer im Herbst erst 150 Jahre alt. Ganz ungetrübt werden die Feierlichkeiten aber nicht sein.
Denn auch wenn Budapest auf einige liberale Elemente verweisen kann, ist Ungarn in den letzten Jahren nicht als Musterstaat der Freiheit aufgefallen. Die ungarische Hauptstadt gilt zwar als beliebtes Ziel des mitteleuropäischen Städtetourismus und als coole Partylocation – aber politisch und gesellschaftlich ist sie eher die liberale Ausnahme als die Regel.
Politische Lage: Staat gegen Hauptstadt
Seit dreizehn Jahren ist in Ungarn die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán an der Macht. (In diesem Artikel werden ungarische Namen nach der deutschsprachigen Konvention „Vorname Nachname“ wiedergegeben – nicht „Nachname Vorname“, wie in Ungarn üblich.) Dieser definiert sein Herrschaftssystem bewusst als „illiberal“. Die Opposition dagegen ist aber nicht unbedingt „liberal“, sondern geht von sozialdemokratisch bis hin zu völkisch-nationalistisch.
Es ist schwierig, Parteien zu finden, in deren Selbstbeschreibung „liberal“ überhaupt vorkommt. Durch die lange Zeit der Abgrenzung vom Begriff „liberal“ in der gelenkten Öffentlichkeit hat dieser sicherlich auch in großen Teilen der Bevölkerung einen negativen Beiklang erhalten. Und es ist unklar, ob jene, die sich als liberal bezeichnen, darunter das Gleiche verstehen wie etwa in Österreich.
Nach der Fidesz-Machtübernahme 2010 mit einem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen wurde auch bei den Kommunalwahlen der Fidesz-Kandidat István Tarlós zum Bürgermeister gewählt und konnte seinen Erfolg 2014 wiederholen. Erst 2019 konnte die vereinte Opposition mit Gergely Karácsony Budapest wieder für sich erobern.
Die Parteizugehörigkeit des Bürgermeisters spielt – wie es auch in Österreich vorkommen soll – eine große Rolle im Verhältnis zum Staat. Insbesondere wenn er zur Opposition gehört. Denn mit der Verfassungsmehrheit hat die Fidesz-Regierung immer mehr Macht und Einfluss an sich gerissen und kann die finanziellen Mittel der Hauptstadt nach Gutdünken vergeben oder zurückhalten.
Oder z.B. neue Kommunalsteuern einführen: Seit dem Wechsel des Bürgermeisters kamen regelmäßig Meldungen über die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der Stadt, was den Fidesz-gelenkten Medien einen Anlass bietet, die angebliche Unfähigkeit des Bürgermeisters zu behaupten. Auf jeden Fall ist die Handlungsfähigkeit der Stadtregierung stark eingeschränkt, auch wenn die Zahlungsunfähigkeit bisher nicht eingetreten ist. Natürlich ist die Regierung daran interessiert, der Budapester Bevölkerung zu vermitteln, dass es ihr besser ginge, wenn sie „richtig“ wählen würde.
Bürgermeister Karácsony war Kandidat eines oppositionellen Zusammenschlusses aus linken bis Mitte-Parteien, er selbst ist Vertreter von „Dialog – Partei der Grünen“, die sich als linke und grüne Partei definiert. Unter den anderen Parteien, die ihn unterstützt haben, wird die „Demokratische Koalition“ als sozialliberal und die „LMP – Grüne Partei Ungarns“ als liberal bezeichnet, und auch die Kleinpartei „Liberale Partei“ stand hinter ihm. Dazu kamen die sozialdemokratische „Sozialistische Partei“ und die Mitte-Links-Bewegung „Momentum“, die im EU-Parlament in der liberalen Fraktion Renew Europe vertreten ist. Man könnte also sagen, dass zumindest die Regierung der Hauptstadt auch liberale Elemente hat.
Wie erwähnt, ist der Handlungsspielraum der Stadtregierung nicht nur in finanziellen Angelegenheiten beschränkt – die liberalen Elemente können also nur in Entscheidungen mit lokaler Bedeutung zur Anwendung kommen.
Noch nicht ganz in der Demokratie angekommen
Die ungarische Gesellschaft wurde immer zur Obrigkeitshörigkeit erzogen: zuerst in der Monarchie, dann zwischen den Weltkriegen in einer undemokratischen rechtskonservativen Autokratie und schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg nach einer sehr kurzen demokratischen Phase im real existierenden Sozialismus bis 1989. Etwa zwanzig Jahre lang gab es regelmäßige Machtwechsel, bis 2010 die seither ungebrochene, großteils mit Verfassungsmehrheit ausgestattete Fidesz-Herrschaft mit autoritären Zügen begann. Die Ansicht, dass ein großer Teil der Gesellschaft nie vollständig in der Demokratie angekommen ist, ist in der Politikwissenschaft recht verbreitet – insbesondere was die Landbevölkerung betrifft.
Budapest (bzw. davor Pest und Buda zusammen) war der Ort, an dem die Revolutionen von 1848, 1919 und 1956 ihren Anfang nahmen. Eine kritische Masse von Menschen, die die Gesellschaft zum Besseren ändern wollen, gab es in Ungarn schon in den letzten Jahrhunderten eher nur in Budapest. Auch der demokratische Untergrund in der sozialistischen Zeit, dessen Möglichkeiten natürlich nur im Erstellen und Publizieren von Samisdat-Literatur bestanden, war auf Budapest fokussiert.
Etwa 18 Prozent der Bevölkerung Ungarns leben in Budapest. Wie in jeder Großstadt bedeutet das, mit vielen verschiedenen Menschen und Ansichten konfrontiert zu sein, was in vielen Fällen zu einer Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und Meinungen führen kann. Das macht Menschen „liberaler“, auch wenn sie sich nicht unbedingt mit dem Wort identifizieren: Die fortwährende „illiberale“ Propaganda aus den meisten Medien wirkt aber auch in Budapest bei vielen Menschen, die nicht bewusst den Kontakt mit ihnen meiden.
So kommt es zum Beispiel dazu, dass der jährliche Pride-Aufmarsch von rechten Gruppen angegriffen wird, die neben der Gewalt schon im Vorfeld durch die massenhafte Anmeldung eigener Demos an vielen Plätzen der Stadt versuchen, die geplante Route unmöglich zu machen. Homosexuell zu sein, ist auch in Budapest noch für mehr Leute ein Problem als etwa in Wien. Auch in Budapest kann es dazu kommen, dass gleichgeschlechtliche Paare, die sich in der Öffentlichkeit küssen, schief angesehen werden – aber sicher seltener als am Land.
Die Akzeptanz der LGBTIQ+-Community und ihrer Rechte ist ein guter Gradmesser für die gesellschaftliche Liberalität einer Gesellschaft. Und in dieser Hinsicht ist Budapest im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten in Ungarn sicherlich führend: Seit 1997 findet jedes Jahr das Budapest-Pride-Festival statt. Erst in den letzten Jahren gibt es vergleichbare, wenn auch kleinere Veranstaltungen in anderen ungarischen Städten.
Die größten Universitäten Ungarns sind in Budapest, somit ist auch eine große Studierenden-Population in der Stadt. Das führt zu einer offeneren, toleranteren Gesellschaft, aber auch zu einer ausgeprägten Fortgeh- und Partykultur.
Ungarische Partyhauptstadt
Budapest hat sich den Ruf einer Party-Hauptstadt erarbeitet. Es gibt eine Menge Lokale, ganz ausgefallene Orte wie Schiffe, die auf der Donau ankern, und die berühmt-berüchtigten Ruinen-Bars, in denen die Gäste bis spät in die Nacht hinein feiern können. Aber auch die Dichte an Stretch-Limousinen und Partybussen ist auffällig hoch. Der öffentliche Verkehr kommt dem Nachtleben mit Nachtbussen entgegen, auch wenn die Straßenbahnen und U-Bahnen um Mitternacht herum zum letzten Mal fahren.
Die Hauptstadt hat eine lange Theater-, Musical-, Operetten- und Operntradition und ist auch mit anderen kulturellen Angeboten wie Museen bestens ausgestattet. Viele Thermalquellen im Stadtgebiet haben schon im 19. Jahrhundert eine Bäderkultur entstehen lassen. Für westliche Besucher:innen wird es etwas ungewohnt sein, dass manche renommierte Bäder an einzelnen Wochentagen entweder Frauen oder Männer hineinlassen – wenn man also als Paar oder Familie baden gehen möchte, ist das nicht immer möglich.
Wirtschaft und Medien
Bei den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kann Budapest natürlich nicht von den gesetzlichen Regeln, die in Ungarn gelten, abweichen. Trotzdem dürfte es einfacher sein, in Budapest ein innovatives Unternehmen zu etablieren, als im Rest des Landes. In den ländlichen Gegenden bis hin zu Kleinstädten kann der Einfluss der lokalen Fidesz-Autokratie zu groß sein, um sich zu entfalten. In der anonymeren Großstadt mit demokratischer Selbstverwaltung kann die Freiheit eher genutzt werden. Allerdings sind die Preise für Immobilien in Budapest auch sehr hoch – sie können fast das Niveau von Wien erreichen, und das bei wesentlich niedrigeren Durchschnittseinkommen.
Schnell wachsende oder öffentlich exponierte Unternehmen können trotzdem auch irgendwann die Erfahrung machen, dass sie einer gewissen politische Einflussnahme nicht mehr entgehen können. Die Fidesz-Alleinregierung hat schon in den 2010er Jahren damit begonnen, die Preise von Energie und kommunalen Dienstleistungen zu regeln, dies gipfelte seit 2022 in der Preisregulierung für Treibstoff und Lebensmitteln. Unternehmerische Freiheit sieht anders aus.
Am schwersten haben es freie Medien. Das kleptokratische System seit 2010 konnte schon kurze Zeit später dank damals großzügig fließender EU-Förderungen eine Gruppe von reichen Oligarchen heranziehen, die irgendwann zu „Medienunternehmer:innen“ wurden und Zeitungen, Radio- und Fernsehsender aufkauften. Aus diesen fließen natürlich rund um die Uhr Fidesz-Propaganda, Anti-EU-Tiraden, Hetze gegen Migrant:innen und seichte Unterhaltung. Die Medien, die noch nicht im Eigentum der Fidesz-Freunde sind, bekommen natürlich keine Regierungsinserate – auch in Österreich ein beliebtes Mittel der Lenkung der veröffentlichten Meinung. Selbst Unternehmen, die auf Aufträge der öffentlichen Hand und von staatsnahen Unternehmen angewiesen sind, müssen sich in ihrem eigenen Interesse zurückhalten, Werbung in solchen Medien zu buchen.
Es gibt noch einige freie Printmedien mit Internet-Präsenz, die großteils von Abonnements leben müssen, und sie sind in Budapest noch erhältlich. Viktor Orbán selbst inszenierte sich vor einigen Jahren in einem Zeitungsladen in Budapest, wo er um Zeitungen bat, in denen er kritisiert wird. Er bekam einige – aber das Kunststück könnte er kaum anderswo außerhalb von Budapest nachmachen.
Fazit
Wie liberal ist Budapest also? Sicherlich in vielerlei Hinsicht freier als der Rest des Landes. Aber die kommunale Politik steht unter Druck von der autokratischen Fidesz-Regierung, und die Gesetze des Landes, die in den letzten 13 Jahren keinesfalls in eine liberale Richtung gingen, gelten auch dort. Es handelt sich um eine moderne europäische Hauptstadt, in der man als Besucher:in keine Einschränkungen spüren wird; liberal gesinnte Ungar:innen in Budapest berichten aber davon, dass das politische Leben, die Propaganda, die fehlende Aussicht auf Änderungen zum Besseren für sie schwer zu ertragen sind.
BALÁZS BÁRÁNY ist selbstständiger Data Scientist in Niederösterreich. Er engagiert sich in netzpolitischen und säkularen Bereichen, unter anderem bei der Piratenpartei Österreichs und im Humanistischen Verband und publiziert unter anderem beim Humanistischen Pressedienst, seinem Blog „Athikan“ und im „Radio-Athikan-Podcast“.