Wie liberal ist … die Sommerzeit?
Am 15. August 2015 etablierte Nordkorea seine eigene Zeitzone und rückte die Uhren um eine halbe Stunde auf eine immerwährende Herbstzeit zurück. Kim Jong-un, der aus Binnensicht als „Oberster Führer“ bezeichnete Diktator der Demokratischen Volksrepublik, distanzierte sich mit diesem symbolischen Akt von den „japanischen Imperialisten“, mit denen er und sein Volk fürderhin keine gemeinsame Zeit verbringen sollten.
Ich landete zufällig drei Tage später nach Einführung dieses 30-minütigen Jap-lags aus Beijing einfliegend in Pjöngjang. Sowohl Geist als auch Körper blieben dadurch unverwirrt im Gegensatz zu versetzten Timecodes auf den Fotokameras, die ein erstaunlich neues Narrativ in die Chronologie in den vermischten Bildbestand einführten. Die nordkoreanische Hauptstadt erweckte in vielen Belangen eher den Eindruck, ein halbes Jahrhundert im Rückstand zu sein. Da kam es auf die halbe Stunde auch nicht an. Um die nationale Einheit mit Südkorea wieder herzustellen, rückte Nordkorea 2018 die Uhrzeit wieder eine halbe Stunde vor. Der immerwährende Charakter der zuvor eingestellten Herbstzeit war damit auf einen Zeitraum von weniger als drei Jahren beschränkt.
Auch wenn es sich nicht um Diktaturen handelt, fällt die Bestimmung der lokalen Uhrzeit nicht in den Bereich der individuellen Selbstbestimmung. Es handelt sich um eine Konvention, die in aller Regel das Zusammenleben vereinfacht. Es wäre auch in der Tat komplex, wenn wir an jedem Punkt der Erde den täglich höchsten Sonnenstand als 12.00 normierten. Dieses Privileg beansprucht gewollt ausschließlich das löndliche Greenwich für sich und jeder 15. Längengrad konsequent davon abweichend.
Im Alltag kann diese Übereinkunft ganz praktisch sein, wenn sich etwa Paris, Wien und Warschau in derselben Zeitzone befinden, auch wenn der Unterschied im Sonnenstand zwischen der französischen und polnischen Hauptstadt mehr als eine Stunde beträgt. Wien liegt dazwischen, und dort geht die Sonne ziemlich genau eine Stunde früher auf als im rund 15 Längengrade weiter westlich gelegenen Paris. Vom Eiffelturm aus gesehen herrscht beim Donauturm so etwas wie permanente Winterzeit. Man könnte meinen, das wäre auch so, lägen die Städte auf demselben Längengrad.
Sommerzeit und Winterzeit könnte man sich auch als virtuelle Rotationsversetzung der Erde um 15° vorstellen. Mir selbst fällt das zugegebenermaßen genauso schwer wie der halbjährliche Gedankensport, ob die Uhrzeit jetzt vor- oder zurückgestellt wird. Aber ist dieser Workout überhaupt notwendig?
Seit Jahren begleitet uns die Diskussion um die Beibehaltung der Sommerzeit, die eine Stunde vom mittäglichen Sonnenhöchststand abweicht, und man darf sich zu Recht fragen, warum dieser Anachronismus einer arbiträr verschobenen widernatürlichen Uhrzeitbestimmung noch weiter besteht, wenn der innereuropäische Real-Jetlag innerhalb der gleichen Zone mitunter wesentlich größer ist. Wer sein Leben selbst in die Hand nehmen will, kann sich ja den Wecker nach der Sonne stellen oder den eigenen Alltag an die eigenen Bedürfnisse nach hell und dunkel anpassen, ohne den Rest der Bevölkerung daran anzugleichen.
Die Sommerzeit ist nicht mehr als der Ausdruck einer kollektivistischen Zwangsdeviation, die kaum eine Winkelsekunde von Kim Jong-uns Symbolik abweicht. Wir sollten sie entsorgen.
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.