Wie liberal ist … gefühlte Wirklichkeit?
Exemplarisch: Die Debatte um Transsexualität
In der Debatte um Transsexualität geht es im Kern um die Deutungshoheit darüber, was der Begriff „Geschlecht“ bedeutet. Das ist im Deutschen besonders verwirrend, weil „Geschlecht“ sowohl das soziale Geschlecht (Gender) als auch das biologische Geschlecht (Sex) bedeuten kann. Politisch wird die Auseinandersetzung mit dieser Thematik sehr hart und emotional geführt. Es wäre daher dringend geboten, die Diskussion zu versachlichen. Dies sei hier im Geiste der Aufklärung und der Vernunft und damit im Sinne des Liberalismus versucht. Dazu ein paar einführende Anmerkungen:
Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung und folgt somit dem Primat der Vernunft und der rationalen Wissenschaften. Die Transsexualitätsdebatte entspringt der Postmoderne, insbesondere dem Poststrukturalismus, wie ihn beispielsweise Judith Butler verfolgt. Die Postmoderne lehnt die Moderne und mit ihr das Primat der Rationalität bewusst ab.
Wenn wir also die Debatte um die Transsexualität aus liberaler Perspektive betrachten wollen, dann müssen wir uns fragen, was wir rational und objektiv wissen können:
- Wenn man Naturwissenschaft als solche akzeptiert, dann können wir aus objektiven Messungen, beispielsweise Gentests, ein biologisches Geschlecht definieren: Mann (XY), Frau (XX) oder Inter (XXY, XYY, …). Dies ist Faktum 1.
- Wenn eine Person das Gefühl hat, im falschen Körper zu stecken, wenn beispielsweise ein Vater das Gefühl hat, eine Frau zu sein, dann wird niemand dieser Person dieses Gefühl absprechen können. Das ist Faktum 2.
Daraus folgt die Frage, wie wir den Widerspruch auflösen können, der bei transsexuellen Personen zwischen der objektiven, biologischen Realität und der subjektiven, gefühlten Realität besteht. Im juristischen Feld ist dies eine reine Frage der Gesetzgebung. Ein adoptiertes Kind hat heutzutage in der westlichen Welt die gleichen Rechte und Pflichten wie ein biologisches Kind. Hier kann der rechtliche Status „Kind“ diskursiv erzeugt werden, auch wenn ein „juristisches“ Kind kein „biologisches“ Kind ist und die juristische Wirklichkeit nicht der biologischen Wirklichkeit entspricht.
Diese Unterscheidung der Kategorien ist von zentraler Bedeutung, sowohl im Sinne der Wissenschaft als auch im Sinne der Gesellschaftspolitik. Juristisch betrachtet ist ein Transmann, also eine Frau, die das Gefühl hat, ein Mann zu sein und die deshalb ihren/seinen Geschlechtseintrag geändert hat, ein Mann. Biologisch betrachtet ist eine Frau, die das Gefühl hat ein Mann zu sein, eine Frau, die das Gefühl hat ein Mann zu sein. „A rose is a rose is a rose“ (Gertrude Stein). Wer auf naturwissenschaftliche Tatsachen pocht, ist deswegen weder ein Vertreter des Patriarchats noch ein Gegner feministischer Errungenschaften. Jemand, der das tut, stützt sich auf die rationalen Wissenschaften und damit einen zentralen Pfeiler des Liberalismus. Mit naturwissenschaftlichen Argumenten soll nicht das Recht von Transpersonen auf Änderung des Geschlechtseintrags infrage gestellt werden, aber man sollte als liberaler Mensch sehr hellhörig sein, wenn Realitäten diskursiv erzeugt werden. Anders formuliert: Der Mensch kann durch Sprache neue juristische Gesetze schaffen, aber er kann keine naturwissenschaftlichen Gesetze erzeugen, denn die Wirklichkeit ist das, was bleibt, unabhängig davon, ob sie uns gefällt oder nicht.
Noch eine kleine Anmerkung zur eingangs erwähnten Verwirrung der Begriffe: Auch wenn in der LGBTQ-Debatte oft alles in einen Topf geworfen wird, gibt es im Hinblick auf die Naturwissenschaften einen fundamentalen Unterschied zwischen Homosexualität (schwul, lesbisch) bzw. Bisexualität (homo/hetero) und Transsexualität. Eine lesbische Frau ist eine biologische Frau, und ein schwuler Mann ist ein biologischer Mann. Hier sind somit das juristische und das biologische Geschlecht deckungsgleich. Ein Transmann dagegen ist eine biologische Frau, die sich entschlossen hat, einen performativ wirkenden Sprechakt zu setzen (um die Sprache der Postmoderne zu verwenden) und sich so in einen juristischen Mann zu verwandeln. Hierbei fallen juristisches Geschlecht und biologisches Geschlecht auseinander. Bei der Homosexualität geht es also darum, die Offenheit in Bezug auf sexuelle Vorlieben als Teil der individuellen Freiheit zu akzeptieren und zu legalisieren, was in der westlichen Welt zum Glück inzwischen gelungen ist. Dies war und ist eine rein juristische Angelegenheit, in der die Biologie keine Rolle zu spielen hat. Bei der Transsexualität dagegen wird eine von der biologischen Wirklichkeit abweichende juristische Wirklichkeit erzeugt. Hier kann die Biologie nicht ignoriert werden, was spätestens dann schlagend wird, wenn es um medizinische Behandlungen von Transpersonen geht.
Langer Rede kurzer Sinn: Wenn man die Grundfeste des Liberalismus, die Rationalität, nicht aufgeben will, dann muss man die naturwissenschaftlichen Tatsachen und die juristischen Konstruktionen auseinanderhalten. Nur auf der Basis einer solchen Trennung der Kategorien können die aus der Transsexualität resultierenden gesellschaftspolitischen Fragen beantwortet werden. Sollen Transfrauen ins Frauengefängnis? Unterliegen Transmänner der Wehrpflicht? … All diese Fragen erscheinen erst einmal verwirrend und werden schnell zum Spielball der Polemik. Solange wir aber auf Rationalität, Liberalismus und Demokratie setzen, können wir zuversichtlich sein und solide Lösungen erwarten.
GEORG ARTELSMAIR hat Technische Physik in Linz und Politische Wissenschaften in München studiert. Von 1988 bis 2023 arbeitete er in verschiedenen Funktionen am Europäischen Patentamt (Patentprüfung, Direktor European Cooperation, Leitung des Sprachendienstes).