Wie liberal ist … Gigi D’Agostino?
Vor ziemlich genau einem Jahr stand ich emotionsgebadet im Festsaal des Standesamts in Klagenfurt. In der linken Hand einen Kranz falscher Wimpern, in der rechten einen Kugelschreiber, mit dessen Feder ich die Liebe zweier meiner längsten Freund:innen bezeugen sollte. Der vom Tränenmeer losgelöste Wimpernkranz war symbolträchtig nicht nur der symbolträchtigen Liebe des Brautpaares geschuldet, sondern auch dem Lied, das sie für die Hochzeit wählten. Befreundete Musiker:innen, die auch mit dem Soundtrack zur ÖBB-Kampagne „Gemeinsam durchstarten“ die eine oder andere Träne lockerten, performten Gigi D’Agostinos L’amour toujours. 365 Tage später – was als Ausdruck an und für sich schon Horrorcharakter hat – wurde das Lied zu einer ausländerfeindlichen Hymne modifiziert. Und so wie der Kugelschreiber in meiner rechten Hand (pun et cetera) wurde der Song zu einem Instrument, das Liebe jedoch nicht mehr bezeugt, sondern sie herausnimmt.
Die Kaperung der Resistenz
Während jugendliche Menschen der 2000er Jahre ihre Zungenpiercings zu diesem Song in diversen Bollwerks des Landes aneinanderrieben – es geht schließlich um Liebe, die einiges aushält –, wurde es nun syltifiziert aka nazifiziert aka von Rechten gekapert und zu einer Hymne für Ausgrenzung, Hass und Rassismus verdreht.
Der TikTok-Algorithmus erwies sich einmal mehr als ein Myzel mit optimalen Echokammer-Bedingungen; weitere Fälle wurden bekannt, und das Lied wurde aus den Playlists von Events und Radiosendern wie Ö3 oder Kronehit gestrichen. Warum es überhaupt jemals dort zu finden war, sei dahingestellt. Das Schadenspotenzial des Lieds sei zu groß, die ethischen Standards der Sender seien zu verteidigen. Auf der einen Seite sind Zeichen gegen die Normalisierung von Hass unbedingt zu setzen, auf der anderen bleibt die Frage: Was sagt es über die Resistenz der Gesellschaft aus, wenn wir zulassen, dass offensichtlich Fehlgeleitete ein Lied für ihre Zwecke missbrauchen? Es ist nicht das erste Mal, dass (pop)kulturelle Elemente für eine bestimmte ideologische (äußerst rechte) Agenda umgewidmet wurden. Schließlich ist das ein einfacher Kniff, um Legitimität zu erwecken und die „Swing States“ der Gesellschaft anzustecken, jene, die eine extremistische Ideologie zunächst noch nicht unterstützt hätten.
Was Regenbogenfahnen und Doc Martens mit Gigi zu tun haben
Das Phänomen der Kooptation des Lieds deckt sich mit den Theorien, die Tim Gray in seiner Analyse des Liberalismus von Herbert Spencer diskutiert: Spencer beschreibt in seinen Vorstellungen von sozialer Dynamik und der Entwicklung von Gesellschaften, wie kulturelle Symbole von verschiedenen Gruppen ideologisch manipuliert werden können. Diese Neuverhandlungen können die ursprüngliche Bedeutung der Symbole verändern und sie für politische Zwecke instrumentalisieren. Die Umwidmung des Lieds durch Rechtsextremist:innen ist ein unanschaulich anschauliches Beispiel für eine solche Neuverhandlung. Diese Neuverhandlung ist aber eben auch in die entgegengesetzte Richtung möglich: Rechte Gruppen haben schon versucht, die Regenbogenfahne als Symbol für ihre kruden Theorien zu verwenden, heute wird sie weiterhin hauptsächlich von der LGBTIQ+-Community als Symbol für liberale Werte wie Vielfalt und Inklusion verwendet. Doc Martens wurden von rechtsextremen Gruppen getragen, heute wurden sie als Symbol der Rebellion gegen Unterdrückung zurückgewonnen und stehen gegen rechte Gewalt.
L’amour liberal toujours
Es heißt, man soll Werk und Künstler:in trennen. Wenn das Werk jedoch neu interpretiert wird, ist es nicht mehr das ursprüngliche Werk und der Künstler nicht mehr der Künstler: Warum dann seine Interpretation verbieten, wenn es eigentlich um eines geht, über das er keine Kontrolle hat und dessen Modifikation ihm zutiefst missfällt? In einem Interview mit der NZZ äußerte der Urheber des Liebes-Party-Neo-Neonazi-Hits seine klare Bestürzung über die Instrumentalisierung seiner Musik: L’amour toujours sei dazu gedacht, die Liebe und die Einheit zu feiern, und nicht, um Hass zu verbreiten. D’Agostino zeigt, so könnte man im Kontext dieses Texts meinen, eine liberale Haltung, wenn er dafür eintritt, dass seine Musik eine verbindende Kraft sein soll. Eine, die Grenzen und Unterschiede überwindet, so you got that wrong, Neonazis. Wie außerdem beispielsweise die Politikwissenschaftler John S. Dryzek und Patrick Dunleavy dargelegt haben, ist der Liberalismus widerstandsfähig und in der Lage, Herausforderungen wie eben die Instrumentalisierung eines harmlosen Lieds zu überwinden. L’amour toujours wird immer ein Liebeslied sein, wenn man es will. Eines, zu dem man guten Freund:innen mit falschen Wimpern in der Hand zulächelt und sagt: „Das Lied gehört noch immer euch.“
ISABELLA-ANJA KHOM ist seit mehr als zehn Jahren als (Chef-)Redakteurin bei diversen Medien tätig. Aktuell kommuniziert sie zeitgenössische Kunst.