Wie viele Chancen wollen wir noch verpassen?
Innovation gleicht keinem Gipfel, der – einmal erreicht – Wettbewerbsfähigkeit garantiert. Sie ist vielmehr eine Seilbahn, die mit starkem Antrieb immer weitere Projekte nach oben befördert. Verliert der Antrieb aber an Schwung, so kommt es zu Stillstand und zwangsläufig zu einer Talfahrt im weltweiten Wettbewerb.
Zuletzt zeigte sich hier erneut, wie unzureichend wir uns um den österreichischen Innovationsantrieb kümmern. Die Linzer Johannes-Kepler-Universität schlug Alarm, weil vielversprechende Forschung im Bereich künstliche Intelligenz aufgrund von mangelnden Mitteln nicht durchgeführt werden kann. Es zeigte sich, dass andere europäische Länder die zig- bis hundertfachen Budgets für das Thema vorsehen, von den Ausgaben in China, UK, USA und Kanada ganz zu schweigen. Dort wurde wohl verstanden, was für eine Bedeutung diese Technologie für die Entwicklung des Standorts einnimmt.
Wir wissen, dass Unternehmen aus Asien und den USA die heimische Wirtschaft nicht nur preislich, sondern oftmals auch technologisch zunehmend unter Druck setzen – und das vor allem in jenen Bereichen, die in der Zukunft wachsen werden, wie etwa erneuerbare Energiegewinnung, Elektromobilität oder die meisten Felder der Informations- und Kommunikationstechnologie. Diese Entwicklung ist meines Erachtens langfristig eine der größten Bedrohungen für den Wohlstand und die Stabilität Europas und sollte uns alle wachrütteln.
Aber ist die Entscheidung bereits gefallen, oder können wir unseren vormals starken Innovationsmotor wieder beschleunigen? Ähnlich wie ein Unternehmen muss auch eine Volkswirtschaft mehrere Faktoren erfüllen, um innovativ zu bleiben. Um es positiv auszudrücken: Hier gibt es noch sehr viel Potenzial.
- Mit Visionen und Zielen arbeiten. Wir brauchen eine klare Innovationsstrategie, die auf den Stärken unserer Betriebe und Forschungseinrichtungen beruht, gut erschließbare Märkte berücksichtigt und das Wachstum der Zukunft verfolgt.
- Forschung GROẞ schreiben! Wir brauchen unabhängige Universitäten und Forschungszentren, die ausgewogen Grundlagen- und Anwendungsforschung betreiben, in direktem Kontakt mit Industrie und Betrieben stehen und ausreichend Ressourcen erhalten, um sie effizient einzusetzen.
- Die besten Ideen entstehen in den stärksten Köpfen. Wir müssen endlich an einem wirkungsvollen Bildungssystem arbeiten, das nicht stupides Wiedergeben von antiquiertem „Wissen“, sondern Innovation, Entrepreneurship und einen selbstbewussten Umgang mit neuen Technologien fördert.
- Brain Gain statt Brain Drain. Wir müssen endlich beginnen, kreative und qualifizierte Menschen nach Österreich zu holen, anstatt sie abzuschrecken und in andere Länder ziehen zu lassen.
- Fördern mit Fokus statt mit Gießkanne. Ähnlich wie es China und die USA tun, sollten wir in den strategischen Innovationsfeldern wirksame und schlagkräftige Unterstützung für Wissenschaft und Unternehmen bieten.
- Wachstum kommt durch den Kapitalmarkt. Sobald eine erfolgsversprechende Ausrichtung der Innovationspolitik erkennbar ist, kann ein funktionierender Kapitalmarkt für die notwendige Skalierung sorgen.
- Den EU-Binnenmarkt als Chance statt als Hindernis sehen. Achten wir darauf, dass Innovationen in Europa erprobt und skaliert werden können und nicht durch Überregulierung und Fragmentierung im Keim ersticken.
- Die Not zur Tugend machen. Aktuelle Entwicklungen drängen uns in hohe Ausgaben bei Militär und Klimaschutz. Nutzen wir diese riesigen Budgets und politischen Prioritäten – und lassen mit Rüstungs- und ökologischen Investitionen auch F&E-Quoten steigen.
Die oben genannten Punkte sind nicht neu. Allein, es fehlt die Entschlossenheit und das Selbstbewusstsein, sie umzusetzen. Der Markt kann zwar effizient und rasch Innovationen erzielen, doch allein gelassen ist er oftmals erratisch. Es braucht zusätzlich die richtigen Rahmenbedingungen und Vorgaben, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu adressieren und Chancen nicht verstreichen zu lassen. Hier ist eine visionäre, zielgerichtete, beherzte und intelligente Politik gefragt.
Wir sollten nicht die Hände in den Schoß legen, sondern endlich den technologischen Fortschritt als eine Chance erkennen. Das Potenzial ist enorm. Ergreifen wir es!
NIKOLAUS GRILLER ist Aufsichtsrat und Vorsitzender des Gesellschafterausschusses in einer internationalen Unternehmensgruppe. Er hat Erfahrung als Geschäftsführer für Vertrieb und Innovationsmanagement, ist aktiv bei der Industriepolitik Österreichs und in Bildungsprojekten, u.a. der Stiftung für Wirtschaftsbildung.