Wir sollten handeln – aber nicht wie die Klimaaktivisten
Der Philosoph Georg Schildhammer schreibt in seinem Gastkommentar über eine ethische Betrachtung der Klebe-Aktionen. Er meint: Wir sollten handeln – aber nicht so wie die Klimaaktivisten.
Ich halte den Klimawandel für real und für eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Da ich in Wien lebe, die meiste Zeit auch hier arbeite und kinderlos bin, habe ich kein Auto, sondern eine Jahreskarte der Wiener Linien sowie eine ÖBB Vorteilscard. Mit dem Flugzeug unterwegs war ich das letzte Mal vor zwei Jahren, nach Sizilien. Zwar bin ich kein Veganer, esse aber nur wenig Fleisch, Eier und Milchprodukte – und zwar aus regionaler biologischer Produktion. All das erzähle ich nicht, um mich selbst zu beweihräuchern. Ich möchte mir bloß nicht vorwerfen lassen, klimaschädigendes Verhalten zu verteidigen, wenn ich die Aktionen der Klimaschützer kritisiere.
Berechtigtes Anliegen oder 15 Minuten Ruhm?
Aktivisten überschütten Gemälde mit Suppe oder kleben sich fest: in Museen, auf Straßen oder sogar auf Landebahnen von Flughäfen. Doch wozu das alles? Um auf den Klimawandel hinzuweisen? Jedes Schulkind hat bereits davon gehört. Die schwedische Aktivistin Greta Thunberg ist seit rund fünf Jahren in dieser Sache unterwegs. Medien setzen das Thema schon seit langem auf ihre Agenda.
Worum geht es dann? Die Politik soll, indem man die Bevölkerung unter Druck setzt, dazu gebracht werden, endlich zu handeln. „Tempo 100“ auf Autobahnen etwa ist eine konkrete Forderung der Klimaaktivisten, deren Umsetzung sie mit ihren Aktionen erzwingen wollen. Dass bei ihren öffentlichen Auftritten, denen man eine gewisse Melodramatik nicht absprechen kann, auch ein wenig selbstdarstellerische Eitelkeit mit im Spiel ist, kann nicht ausgeschlossen werden. Aber darüber mag man hinwegsehen, wenn der Zweck die Mittel heiligt.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Linke – und viele Klimaaktivisten sowie ihre Sympathisanten dürften eher links sein, betrachtet man die Verknüpfung ihrer ökologischen Forderungen mit ihrer Kapitalismuskritik – argumentieren utilitaristisch: Der Nutzen einer Handlung entscheidet über ihre Legitimität. Wenn, vereinfacht gesagt, sehr viele Menschen von einer bestimmten Aktion profitieren, ist sie zulässig, selbst wenn durch sie eine (kleinere) Zahl von Menschen geschädigt wird. Gemäß diesem Ansatz ließe sich z.B. rechtfertigen, dass ein paar Dutzend Autofahrer in Wien in einem durch Klebeaktivisten verursachten Stau feststecken, wenn dadurch Millionen von Menschen vor dem Klimakollaps gerettet werden.
Doch so plausibel diese Argumentation auf den ersten Blick auch sein mag, sie stößt rasch an ihre Grenzen. Denn während das Feststecken im Stau ein sofort überprüfbares Ergebnis, weil das unmittelbare Ziel dieser Aktion, ist, gilt das für das mittelbare, die Rettung der Menschheit, schon nicht mehr. Denn dieses Ziel bzw. seine Verwirklichung liegt in der Zukunft – und die ist bekanntlich unbekannt. Wir können nicht ausschließen, dass wir in wenigen Jahren durch die Entwicklung neuer Technologien unser CO2-Problem lösen werden. Wäre es da nicht unmoralisch, hier und jetzt Menschen im Stau stecken und mit laufenden Motoren die Umwelt verschmutzen zu lassen?
Menschenwürde statt Kosten-Nutzen-Rechnung
Für den Philosophen Immanuel Kant wären all diese Aktionen unzulässig. Und zwar deshalb, weil durch sie Menschen ohne ihre Zustimmung instrumentalisiert werden – zu einem Zweck, der nicht von ihnen selbst autonom gewählt wurde, was ihrer Menschenwürde widerspricht.
Die Klebeaktionen sind keine vorab angemeldeten Demonstrationen. Solche sind in Österreich von der Verfassung als Grundrecht (Versammlungsfreiheit) garantiert. Ein Kantianer könnte also sagen: „Ich bin Staatsbürger dieses Landes und stimme seiner Verfassung zu. Wäre es nicht so, würde ich sie auf demokratische Weise zu ändern versuchen. Eine angemeldete Demonstration respektiert meine Würde. Daher habe ich kein Problem damit. Notfalls kann ich ja eine andere Route wählen.“ Eine unangemeldete Klebeaktion zwingt Autofahrern jedoch einen ihnen fremden Willen auf.
Besonders problematisch wird dies, wenn durch unangekündigte Straßenblockaden Einsatzfahrzeuge behindert werden. Sind die – vielleicht – geretteten Leben künftiger Generationen mehr wert als jene, die gegenwärtig tatsächlich auf dem Spiel stehen? Muss der Schlaganfall-Patient im Rettungswagen für ein höheres Ziel sterben, weil er im von Klimaaktivisten verursachten Stau feststeckt?
Ich muss diese Frage mit einem klaren Nein beantworten und kann mir kaum vorstellen, dass ein Klimaaktivist sie mit Ja beantworten würde, wenn er selbst oder ein Mensch, der ihm lieb und teuer ist, der Patient im Rettungswagen wäre. Zwar ist ein solcher Fall in Österreich bisher noch nicht eingetreten, er könnte sich aber jederzeit ereignen, wie ein Beispiel aus Deutschland zeigt. Dort kam ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr wegen eines durch Klebeaktivisten verursachten Staus nicht rechtzeitig am Unfallort an, eine Radfahrerin starb.
Apropos „Rettung“
Der Bundesrettungskommandant des Roten Kreuz, Gerry Foitik, ließ unlängst via Twitter der ÖVP, die sich für strengere Strafen für Klebeaktivisten stark machte, ausrichten: „Instrumentalisieren Sie uns und medizinische Notfälle bitte nicht weiter für die Kriminalisierung jener, die für einen starken Klimaschutz einstehen und dafür Bestimmungen der StVO verletzen.“ Laut Foitik würden die Einsatzkräfte ja oft auch so durch Staus oder rücksichtslose Verkehrsteilnehmer behindert.
Der Bundesrettungskommandant wurde hier tatsächlich instrumentalisiert – und zwar von den Klimaaktivisten. Der Job von Herrn Foitik besteht nämlich ausschließlich darin, Menschenleben zu retten, und zwar durch das effiziente Managen seiner Einsatzkräfte. Eigentlich müsste er Sorge dafür tragen, dass alle Hindernisse bei der Umsetzung dieses Ziels aus dem Weg geräumt werden. Stattdessen bagatellisiert er eines dieser Hindernisse mit erkennbarer Sympathie für die Aktivisten. Dass die normalerweise, etwa durch rücksichtslose Autofahrer, verursachten Staus ebenfalls und vielleicht sogar öfter als Klebeaktionen Rettungsfahrzeuge behindern, mag zwar zutreffen. Doch sind es in diesen Fällen unbeabsichtigte Nebeneffekte und nicht das Ergebnis einer Handlung, die bewusst auf Behinderung des Verkehrs abzielt.
Wasser predigen und Wein trinken
Gerry Foitik ist nicht der Einzige, der mit befremdlichen Aussagen zum Klimaaktivismus in Erscheinung tritt. So hat der langjährige „profil“-Herausgeber Christian Rainer in seinem Leitartikel „Wie radikal darf die Rettung der Welt sein?“ offen seine Sympathie für die Klebeaktionen zu erkennen gegeben. Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil Rainer ein wichtiger „Opinion Leader“ ist. Er und andere prominente Journalisten könnten durch ihre wohlwollenden Stellungnahmen die Klimaaktivisten in ihrem Handeln bestärken, ohne die moralischen Schwierigkeiten (siehe: Rettungswagen mit sterbendem Patienten) ausreichend berücksichtigt zu haben.
Wenn junge, unerfahrene Menschen, die sich von einer Bewegung mitreißen lassen, Zuspruch von arrivierten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erfahren, könnte dies dazu führen, dass sie ihre Maßnahmen verstärken und – im Falle ihres Scheiterns – immer aggressiver gestalten. Tatsächlich geschieht das ja bereits: Klimaaktivisten lassen Luft aus den Reifen parkender Autos, was ein erhebliches Risiko sowohl für die Fahrzeuglenker, als auch für Passanten darstellt.
Abgesehen von einer zweifelhaften Verwendung seiner Vorbildfunktion legt Christian Rainer damit auch eine irritierende Doppelmoral an den Tag. Denn er logiert nicht nur in einer Wiener Innenstadt-Wohnung mit Terrasse im 14. Stock, er hat außerdem – oder hatte jedenfalls noch vor wenigen Jahren – einen Ferrari in der Garage stehen. Rainer steigt hin und wieder zu Fernreisen ins Flugzeug (Kuba und die USA standen bereits auf dem Programm) und geht gerne zu einem Nobel-Italiener im ersten Bezirk, bei dem frischer Seefisch auf der Karte steht, der bestimmt nicht über die Donau nach Wien schwimmt.
All das wurde bereits in Medienberichten erwähnt, weshalb ich es hier verraten darf. Nun gönne ich Christian Rainer seinen CO2-intensiven Lebensstil, denn ich weiß, dass er ihn sich hart erarbeitet hat. Doch mit seiner Begeisterung für den aktuellen Klimaaktivismus passt er nicht zusammen.
Weg vom Öl, runter vom Gas
Dass wir etwas tun müssen, steht außer Frage. Der Rückzug aus Erdöl und anderen nicht-erneuerbaren Ressourcen mit hohem Potenzial für Umweltverschmutzung ist essenziell. Doch die zunehmend gefährlicheren Handlungen der Klimaaktivisten sind eine Sackgasse. Sie stoßen Normalbürger vor den Kopf, die sich – im Falle des Festklebens an Straßen – zur Arbeit stauen und nicht mal eben schnell aussteigen und auf einen Kaffee zu Fabios spazieren können.
Das meiste CO2 weltweit wird von der Masse der Menschen generiert und zwar durch Aktivitäten, die an unser Überleben geknüpft sind, wie die Bereitstellung von Nahrung, Energie, Wäsche, medizinischer Versorgung und einem Dach über dem Kopf. Der Mann von der Straße kann sie nicht von heute auf morgen ändern, selbst dann nicht, wenn er von Klimaaktivisten genötigt wird.
Vielleicht kann man die Menschen für kleinere Modifikationen innerhalb des Systems gewinnen, Stichwort „Tempo 100“. Doch ob die Mehrzahl von ihnen von Eingriffen zu überzeugen ist, die z.B. mit finanziellen Einbußen einhergehen, ist fraglich. Als der französische Präsident Emmanuel Macron 2018 eine höhere Besteuerung für fossile Kraftstoffe einführen wollte, um die Energiewende einzuleiten, kam es im ganzen Land zu Demonstrationen der sogenannten „Gelbwesten“.
Ob wir die Welt vor dem Untergang retten können? Ich weiß es nicht, bin aber zuversichtlich. Dabei vertraue ich jedoch weniger auf Klimaaktivisten, als auf Wissenschaft und Technik und auf eine Bevölkerung, die Änderungen offen gegenübersteht. Doch selbst wenn das bloß Zweckoptimismus sein sollte: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – mit Sicherheit aber erst nach der „letzten Generation“.
GEORG SCHILDHAMMER ist Philosoph und Autor. Er unterrichtet an einer privaten Universität sowie an mehreren Fachhochschulen. Seine Schwerpunkte sind Ethik und Wissenschaftstheorie. Schildhammer lebt in Wien.