Zukunft gelingt nur mit der Zivilgesellschaft
Das politische System in Österreich funktioniert als parlamentarische Parteien-Demokratie, die im Idealfall die politischen Interessen und Anliegen der Bürger in praktische Politik und Gesetzesvorhaben übersetzen soll. Die Zivilgesellschaft wird dabei im legistischen Prozess über das Stellungnahme-Verfahren einbezogen oder in die Meinungsbildung über grundsätzliche und langfristig wirksame Themen eingebunden, wie es etwa vor 20 Jahren beim Österreich-Konvent über Verfassungsfragen der Fall war. Angesichts der heute vielen notwendigen Reformen, von der ökologischen Transformation der Wirtschaft bis zur Sicherung des Generationenvertrags, wäre die gleichberechtigte Partizipation der Zivilgesellschaft ein notwendiger demokratiepolitischer Fortschritt im Interesse von Qualität und Akzeptanz von politischen Entscheidungsprozessen. Eine solche Einbeziehung des bewährten Engagements von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und Initiativen in alle wichtigen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zukunftsprojekte würde eine „bürgerschaftliche Wende“ als Zukunftsperspektive der Politik markieren. Was ist damit gemeint?
Zunächst einmal, dass sich, wie auch im abgelaufenen Wahlkampf zu sehen, schon einige Initiativen der Zivilgesellschaft gebildet haben, die sich alle das Ziel setzen, die Bedrohung der liberalen Demokratie in Österreich zu bekämpfen. Wie etwa die Initiativen „demokratieundrespekt.at“ oder „Ein Versprechen für die Republik“ mit prominenten Proponenten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, auch aus dem bürgerlichen Spektrum, die sich als „Bündnis zur Verteidigung der liberalen und sozialen Demokratie“ verstehen und mobil machen wollen gegen eine FPÖ/ÖVP-Regierung, vor allem unter einem rechtspopulistischen „Volkskanzler“. Dieses parteiübergreifende Engagement muss freilich jetzt nach der Wahl weitergehen, wenn die nächste Regierung gebildet wird.
Langfristiges Engagement erwünscht
Neben diesen kurzfristigen Initiativen sollte die Zivilgesellschaft künftig aber jedenfalls auch längerfristig bei der Gestaltung einer zukunftsorientierten und vom Vertrauen der Bevölkerung getragenen Politik eine wesentliche Rolle innehaben. Dies kann institutionell etwa mit der Einrichtung von lokalen Bürgerbüros als öffentliche Anlauf-, Beschwerde-, und Diskussionsorte erfolgen, wo engagierte Bürger mit politischen Funktionären an der Basis über aktuelle und ihr Lebensumfeld betreffende Themen debattieren, oder in Form der Anhörung von Bürgerinitiativen und gemeinnützigen Organisationen in regelmäßigen parlamentarischen Diskussionsforen als eine ständige Rückkoppelung zu mit bestimmten Sachthemen befassten Aktivbürgern.
Außerdem könnte die politisch aktive Zivilgesellschaft über Vereine, Organisationen, NGOs und Expert:innen in die Parteien, zumal in die größeren Volksparteien, selbst hineinwirken, um dort etwa in institutionalisierten Bürgerforen die Anliegen der Staatsbürger und „einfachen Menschen“ besser zu Gehör zu bringen. Eine Öffnung von politischen Parteien für Bürgerlisten oder Themen-Plattformen könnte auch insofern erfolgen, als mit diesen permanent kooperiert wird und für sie bei Wahlen auch ein aussichtsreicher Listenplatz vorgesehen ist, um neue Wählergruppen und deren Themen anzusprechen und politisch zu vertreten. Auf diese Weise könnten thematisch spezialisierte Initiativen, die organisatorisch und inhaltlich relativ unabhängig sind, mit Berufspolitikern unter einem gemeinsamen (Partei-)Dach für bestimmte Sachprojekte wie etwa für konkrete Klimaschutzmaßnahmen oder regionale Integrationsprojekte zusammenarbeiten, um durch die Beteiligung von engagierten Bürgern mehr inhaltliche und personelle Breite in die Politik zu bringen.
Über Raumplanung, Bodenversiegelung oder die Neuregelung des Mietrechts würden dann nicht nur die Repräsentanten der alteingesessenen Parteilobbys wie Wirtschaftsbund, Gewerkschaft etc. den Kurs bestimmen, sondern auch lokale Umweltinitiativen und betroffene Personengruppen als Repräsentanten der Zivilgesellschaft mitentscheiden, die viel Engagement, Fachwissen und Verantwortung anbieten können und dabei nicht nur einen (meist schon feststehenden) parteipolitischen Standpunkt vertreten, sondern eben die Meinung und die Prioritäten interessierter Staatsbürger wiedergeben. Den Klubzwang, also die Unterordnung unter die jeweilige Klubführung, würde es aber wohl weiterhin geben.
Zivilgesellschaft statt Bundesrat
Wenn die verschiedenen Bürger-Initiativen aber trotzdem über die Parteigrenzen hinweg zusammen etwas bewegen, könnte sich dies zu einer spannenden Herausforderung für politische Prozesse entwickeln. Dabei würde es aber sicher auch, wie zwischen den bestehenden Parteien, prinzipielle und inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen „Bürgervertretern“ in den verschiedenen Parteien geben.
Und schließlich müsste, um eine substanziell neue Art der Politik zu generieren, die in Inhalt und Agieren über die herkömmlichen Muster der Parteipolitik hinauswirken kann, das gesellschaftlich bewährte Engagement der Zivilgesellschaft auch als institutionalisierte Mitsprache und Mitentscheidung im politischen Meinungsbildungsprozess einbezogen werden und jedenfalls über die derzeit routinemäßig gepflogenen Begutachtungsverfahren und die zu grundlegenden Themen bisweilen abgehaltenen parlamentarischen Enqueten mit Beteiligung von Fachleuten für das jeweilige Thema hinausgehen. Dies könnte letztlich durch eine anstelle des derzeitigen (politisch weitgehend unwirksamen) Bundesrats einzurichtende zweite Kammer der Zivilgesellschaft erfolgen, die bei Gesetzesvorhaben ein rechtlich garantiertes Mitspracherecht haben müsste.
Das repräsentative Mandat dieser Abgeordneten würde sich aus der Entsendung durch die größten Organisationen der Zivilgesellschaft ergeben, bei denen Mitgliedschaft und Mitarbeit der Allgemeinheit grundsätzlich offenstehen. Auf diese Weise könnte das Engagement und das Fachwissen der Zivilgesellschaft für die Regierungsarbeit, aber auch für die Opposition genutzt werden und damit einen über die klassische Parteipolitik hinausgehenden demokratiepolitischen Fortschritt leisten, den ein offenbar nicht mehr vertrauenswürdiges politisches System dringend nötig hätte.
Die bürgerschaftliche Wende
Diese Art einer neuartigen Kooperation von traditioneller Parteipolitik und selbstorganisierter zivilgesellschaftlicher Politik ist die Substanz einer bürgerschaftlichen Wende. Das Ziel einer solchen Erneuerung der Demokratie wäre eine vom Engagement interessierter Bürger getragene, breitere politische Beteiligung und thematische Vielfalt, die die herkömmliche politische Arbeit in den Parteigremien und Parlamentsklubs bereichern sollte. Die Grundtugenden eines solchen bürgerorientierten Politikverständnisses müssten Verantwortungsbewusstsein, Sachlichkeit, Kompetenz, der Wille zur Förderung des Gemeinwohls, der Mut zu Innovationen, die Bereitschaft zu sozialen Kompromissen, die Dialogfähigkeit nach allen Seiten hin, aber auch die Beschränkung der Macht von politischen Parteien und eine praktizierte Bürgernähe sein. Wie die repräsentative Demokratie ein permanenter Aushandlungsprozess ist, wäre jedenfalls auch die verbindliche Partizipation und politische Mitgestaltung durch bürgerschaftliches Engagement eine Herausforderung für die Zusammenarbeit mit den gewählten parteipolitischen Mandataren und Amtsträgern.
Es könnte eine neue Qualität des politischen Handelns darstellen, wenn sich die im Parlament vertretenen Parteien mit den großen Organisationen der Zivilgesellschaft je nach Thema gemeinsam auf die wesentlichen politischen Reformprojekte verständigen müssten – wie etwa die ökologische Transformation der Wirtschaft, wirksame Lenkungsmaßnahmen für den Klimaschutz, Investitionen in nachhaltige Technologien und Industrien, ein sozial innovatives Bildungssystem, die alle gesellschaftlichen Bereiche betreffende Digitalisierung, eine nachhaltige Sicherung des Pensionssystems, den Ausbau und die Sicherung einer langfristigen Pflegeversorgung, einen starken Sozialstaat, der sozial schwache Gruppen nicht zurücklässt, sondern am allgemeinen Wohlstand teilnehmen lässt, die Absicherung eines Niedriglohn-Arbeitsmarktes, eine gleichermaßen humanitäre und arbeitsmarktorientierte Flüchtlings,- Migrations,- und Integrationspolitik und nicht zuletzt auch die Zukunft der Europäischen Union.
Eine verstärkte und wirkungsvolle Einbeziehung der Zivilgesellschaft in das politische Handeln wäre gewiss eine anspruchsvolle und mitunter schwierige Herausforderung für das politische System und seine Repräsentanten. Für den sozialen Zusammenhalt in Staat und Gesellschaft, die Verteidigung des Rechtsstaats gegen politische Extrempositionen und die verlockenden Simplifizierungen des Rechtspopulismus sowie eine möglichst breit legitimierte Entscheidung über grundlegende Zukunftsfragen sollte sich diese demokratische Anstrengung aber jedenfalls lohnen. Eine konstruktive Zusammenarbeit des politischen und administrativen Establishments mit repräsentativen bürgerschaftlichen Initiativen könnte jedenfalls eine neue demokratische Qualität von politischen Entscheidungen bewirken und sollte damit insgesamt auch die Zufriedenheit mit der Politik und der Demokratie erhöhen.
ANDREAS KRESBACH ist Jurist im Öffentlichen Dienst und Autor in Wien.