Der neue Kampf der Systeme
Unsere liberale Demokratie ist bedroht. Von innen und von außen. Schlimmer noch: Diejenigen, die uns bedrohen, arbeiten zusammen. Was nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde, passt weder den Diktatoren außerhalb Europas noch den Autoritären innerhalb der EU. Das müssen wir endlich verstehen.
Die knapp 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich in folgende Zeiträume einteilen: zunächst Wiederaufbau im Westen und brutale Durchsetzung des Kommunismus im Osten, dann Kalter Krieg mit dem Höhepunkt des Baus der Berliner Mauer im August 1961. Mit dem Fall der Mauer im November 1989 begann dann die Hoffnung auf einen neuen Frieden in Europa, dessen Ende Wladimir Putin mit seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 einläutete, wobei viele im Westen das Wesen dieses vierten Zeitabschnitts nicht wahrhaben wollten. Auch die fünfte Phase, der heiße Krieg gegen die Ukraine ab dem Frühjahr 2014, begleitet von einem hybriden Krieg gegen uns, wurde verdrängt.
Erst der Versuch Putins, Staatspräsident Selenskyj ermorden zu lassen und aus der Ukraine einen Vasallenstaat wie Belarus zu machen, hat dann doch zum Erwachen geführt. Am 24. Februar 2022 sind auch die Verblendeten in der grausamen Realität aufgewacht. Nun geht es um die nächste Phase: Werden die Diktaturen Europa erobern und 80 Jahre Freiheit beenden – oder erkennen wir endlich die Gefahr, dass alles, was Europa in dieser einmaligen Zeit ausgemacht hat, gefährdet ist? Dieser Frage müssen wir uns stellen.
Zu meinen vielen Erinnerungen als Korrespondent in Deutschland ab Mitte der 1980er Jahre gehören die Auftritte von Franz Josef Strauß am Aschermittwoch in Passau. Eine riesige Halle war voll mit treuen Anhängern, diese begannen den freien Tag gerne mit einer Maß Bier, was zur allgemeinen Stimmung beitrug. Der bayerische Ministerpräsident verstand es, die gut gelaunte Menge mit flotten Sprüchen zu unterhalten, er bestand aber auch darauf, die Weltpolitik umfangreich zu erklären. Sein Standardsatz zur Begründung, warum Bundeswehr und NATO gut gerüstet sein müssten: „Hitler hat das Risiko gesucht und ist damit gescheitert. Die Sowjets sind risikoavers. Solange sie verstehen, dass sie uns nur unter großen Verlusten angreifen können, werden sie es nicht tun.“
Seine Einschätzung war richtig. Die Nachrüstung der NATO mit den Pershing-Mittelstreckenraketen gegen die sowjetischen SS 20 war eine Antwort, die in Moskau verstanden wurde. Die Teilung Europas, die Aufteilung gemäß der Konferenz von Jalta, hielt, bis Michail Gorbatschow verstand, dass sich das Sowjetreich durch die kommunistische Planwirtschaft selbst zerstören würde und das „gemeinsame Haus Europa“ als friedliches Zukunftskonzept erfand, übrigens schon sehr bald nach seinem Amtsantritt im März 1985. Als hoher Parteifunktionär kannte er die Zahlen des ökonomischen Desasters des gesamten Ostblocks.
Womit wir bei Putin sind, der einen doppelten Angriff auf unser Europa führt. Er kennt wahrscheinlich nur einen kleinen Ausschnitt der russischen Realität, so wie er über die militärische und psychologische Lage in der Ukraine vor dem Überfall am 24. Februar 2022 nicht ausreichend informiert war. Und im Gegensatz zur Sowjet-Führung sucht er das Risiko – sonst wäre das russische Militär anders vorgegangen. Das Angstregime im Kreml schneidet ihn von vielen Fakten ab. Das ändert nichts daran, dass er mit seinen KGB-Methoden den hybriden Krieg gegen uns, die gesamte Europäische Union und vor allem gegen die liberale Demokratie als unsere Lebensform weiter verstärken wird; mit tatkräftiger Unterstützung der rechtsextremen Parteien in Europa und vieler Republikaner in den USA. Auch diese Gruppierungen beiderseits des Atlantiks halten nichts von der offenen Gesellschaft, sie wollen autoritäre Systeme, wo sie die Hirne und vor allem die Herzen der Bevölkerung im Griff haben.
Wir müssen ehrlich sagen: Es ist uns noch nicht gelungen, auf diesen doppelten Angriff auf unsere Lebensart wirkungsvoll zu reagieren. Er kommt von außen durch intensive Propaganda in allen digitalen Kanälen, die dann auch hier übernommen wird, von rechten Parteien, die unser Modell von innen aushöhlen. Und dabei die sozialen Medien ebenso benützen wie die Parlamente. Die Formulierungen rechter Politiker:innen folgen den Vorgaben aus Moskau.
Dass dabei auch Geld fließt – wie im Fall Bystron – ist inzwischen bewiesen. Wenn etwa Putin die Sanktionen des Westens ablehnt, dann folgt bald darauf ein entsprechender Antrag der FPÖ im Nationalrat. Wenn Putin Europa für seinen Krieg verantwortlich macht, dann nennt die FPÖ die EU einen „Kriegstreiber“. Zu Putins Kriegsverbrechen fällt der FPÖ nichts ein, die Abgeordneten vermeiden auch jeden Kontakt mit Delegierten aus der Ukraine. So folgsam sind sie.
Dabei ist Russland nicht alleine im Kampf gegen unsere liberale Demokratie: Im April sind in Deutschland nicht nur russische Spione verhaftet worden, sondern auch chinesische. Einer von ihnen soll der Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl sein. Und Viktor Orbán spielt auch gegenüber China den unterwürfigen Türöffner gegenüber einer Autokratie: Die kommunistische Führung in Peking wird rund 500 Polizisten nach Budapest schicken, um dort „für Sicherheit“ zu sorgen. In Wirklichkeit holt Orbán damit die chinesische Überwachung in unser Europa.
Denn hier hat sich das Rad der Geschichte weitergedreht. Während früher kommunistische Diktaturen Menschen, die das Land verlassen wollten, eingesperrt oder an der Grenze festgenommen und leider oft auch erschossen haben, geben sich diese Systeme heute weltoffen: Die Kinder der russischen Oligarchen studieren gerne im Westen und wohnen in den Luxuswohnungen, die ihre Eltern nicht selten mit unehrlich erworbenem Geld gekauft haben. Chinesische Reisende kaufen bei uns gerne luxuriöse Modeartikel, mit denen sie zu Hause stolz auftreten können.
Und weil wir im Westen so lange davon profitiert haben, dass unsere Lebensart und unsere Markenwaren attraktiv sind haben wir übersehen, dass autoritäre Regime nicht aufgegeben haben, uns zu bekämpfen. Der Kalte Krieg war auch eine Auseinandersetzung der Systeme. Die Planwirtschaft konnte dabei nur verlieren. Aber seit China erkannt hat, dass die Planwirtschaft nicht funktioniert und den Kapitalismus präferiert hat bzw. Putin in Russland die Oligarchen von sich abhängig gemacht oder sich ihrer entledigt hat, geht es nicht mehr um den Kampf freie Marktwirtschaft gegen kommunistische Diktatur. Jetzt geht es um das Überleben der liberalen Demokratie und der fairen Wirtschaftspolitik.
Wir haben sie lange für selbstverständlich gehalten, das ist sie nicht mehr. Putin wird nicht ruhen, er wird mit Hilfe seiner Freunde im Westen gegen uns agitieren. Und sein Nachfolger wird kein Gorbatschow sein. Die russische Gesellschaft ist moralisch so zerstört, dass es keinen Ruf nach Demokratie geben wird. Und in Peking arbeitet Parteichef Xi Jinping daran, China zur „stärksten Nation“ zu machen. Im Klartext heißt das: zum weltweit dominierenden Staat. Dieses Ziel ist klar definiert.
Also müssen wir endlich begreifen, was wir zu verteidigen haben, in Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen: unsere Freiheit, unseren Frieden, unsere Vielfalt, unsere europäische Identität als Gemeinschaft vieler Völker, die die Geschichte verstanden haben. Als gemeinsames und starkes Europa, das aktiv für seine Freiheit einsteht.