Die Grenzen der Vernunft: Wie die ÖVP Rechtsextremismus verharmlost
Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Karl Nehammer beteuert in Interviews immer wieder, er schließe eine Koalition mit der FPÖ unter Herbert Kickl aus. Doch ohne ihn, so scheint es, ist die rechtspopulistische FPÖ der Wunschpartner der ÖVP. Angeblich gebe es eine Partei mit „sehr vielen Vernünftigen“, die bloß von Herbert Kickl in ein schiefes Licht gerückt werde. Aus ehrlicher Neugier hat sich Georg Lundström-Halbgebauer auf die Suche begeben: Wen könnte Nehammer gemeint haben, als er von den Vernünftigen sprach? Die Ausbeute ist mager.
In Voltaires Encyclopédie heißt es: „Vernunft besteht darin, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.“ Diese Minimaldefinition ist für unsere Zwecke am nützlichsten, weil ihr Gegenteil besonders klar ist. Unvernunft besteht darin, die Dinge so zu sehen, wie sie nicht sind: Meinung als Faktum, Lüge als Wahrheit, Unrecht als Recht. Wer also in einer Fundamentalopposition zur wissenschaftlichen Methode steht, wer sich in aberwitzigen Verschwörungstheorien verliert und wem es an praktischer Vernunft im Sinne von Moral fehlt, kann nicht als vernünftige:r Politiker:in gelten.
Moral, das ist die sittliche Übereinkunft über unsere Grundwerte, die letztlich auf einer Entscheidung, auf einer Überzeugung beruht. Warum leben wir in einer Demokratie? Warum in einem Rechtsstaat? Warum beanspruchen wir die universelle Geltung der Menschenrechte? Weil wir es so wollen. Unmoralisch, also entgegen unserer Sitten, verhält sich, wer die Demokratie als solche, die Grundlagen der regelbasierten internationalen Ordnung und die Universalität der Menschenrechte infrage stellt. Auch wer sich über geltende Gesetze hinwegsetzt oder sich nicht klar vom Faschismus distanziert, steht außerhalb der Gemeinschaft und ist in diesem Sinn unmoralisch, und daher auch nicht vernünftig. Damit sind die minimalen Anforderungen an eine Person klar, die in unserer politischen Ordnung als vernünftig gelten will.
Die Extremwetter-Ereignisse im frühen September und der Hitzerekord-Sommer 2024 geben der FPÖ wieder einmal Anlass, ihre wissenschaftsfeindliche Position zum Besten zu geben. Der anthropogene Klimawandel wird weitestgehend negiert, seine Folgen verharmlost, der Handlungsbedarf als fast nicht vorhanden dargestellt. Dieselbe Flucht ins Postfaktische demonstrierte die FPÖ auch während der COVID-19-Pandemie, in der vom Parteiobmann abwärts alles Mögliche und Unmögliche an Verschwörungstheorien und Wunderkuren (Stichwort Ivermectin) angepriesen wurde. Erst im April 2024 lud die Partei den Verschwörungstheoretiker Sucharit Bhakdi ein, der behauptet, man könne sich vor Viruserkrankungen nicht durch Impfungen schützen. Dass die WHO eine weltweite Gesundheitsdiktatur errichten wolle und ähnliche Verschwörungserzählungen sind in der Partei weit verbreitet.
Würden sich diese Positionen auf wissenschaftliche Daten gründen, wären sie als andere Meinung in einer offenen Gesellschaft zu begrüßen. Man würde dann in der Sache diskutieren und versuchen, dem besten Argument zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn aber Telegram-Schwurbelkanäle für glaubwürdiger gehalten werden als Studien renommierter Forschungseinrichtungen, ist das schlicht unvernünftig. Da gibt es dann auch keine Basis mehr für eine gemeinsame Diskussion.
Die vielen Einzelfälle
Die FPÖ hat eine berüchtigte Geschichte von sogenannten Einzelfällen rechtsextremer Entgleisungen, die mittlerweile so regelmäßig und erwartbar auftreten, dass die öffentliche Empörung sich leider in Grenzen hält. Zahlreiche (deutschnationale und teils rechtsextreme) Burschenschafter besetzen einflussreiche Positionen innerhalb der Partei. Und alljährlich veranstaltet die FPÖ den sogenannten „Akademikerball“, der nichts weiter als eine Fortsetzung des Balls des deutschnationalen Wiener Korporationsrings unter anderem Namen ist, nachdem das Veranstaltungszentrum Hofburg den WKR nach jahrelangen Protesten endlich vor die Tür gesetzt hatte. Seit Jahrzehnten zieht der Ball Rechtsextreme aus ganz Europa an, wie etwa Marine Le Pen vom französischen Rassemblement National, den Niederländer Geert Wilders von der Partij voor de Vrijheid oder auch Martin Sellner, den Vorsitzenden der rechtsextremen „Identitären Bewegung“, deren Symbole in Österreich verboten sind. Für Kickl und seine Führungsriege sind die Identitären eine „NGO von rechts“. Ihre Kampfbegriffe, wie etwa Remigration, haben Einzug in die blaue Rhetorik gefunden. Und eine Vielzahl von Funktionär:innen pflegt Kontakt zu Sellner und seinem Verein.
Die FPÖ schloss einen Freundschaftsvertrag mit Putins Partei „Einiges Russland“ und unternahm regelmäßige Russland-Besuche. Sie diskreditiert EU-Sanktionen gegen Russland, den Aggressor im Ukraine-Krieg, das in einem hybriden Krieg das vereinte Europa und die Demokratie seit Jahren direkt angreift. Der Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im österreichischen Parlament blieb die FPÖ fern. Orbáns Modell der illiberalen Demokratie bezeichnete FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker vor kurzem als explizites Vorbild.
Und FPÖ-Parteiobmann Herbert Kickl meinte in der Fernsehdebatte mit NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger, darauf angesprochen, dass seine Vorschläge zur Migrationspolitik gegen geltendes Europarecht und gegen die Menschenrechte verstoßen würden: „Wir machen das einfach.“ An den großen Korruptionsskandalen der letzten 20 Jahre waren fast immer auch FPÖ-Politiker beteiligt, von Eurofighter bis BVT, von Hypo Alpe Adria über die Wiener Spesenaffäre bis zum Finanzskandal der FPÖ Graz. Auf Rücktritte oder klare Distanzierungen innerhalb der Partei wartet man meist vergeblich.
All die genannten Erscheinungen sind strukturell. Sie beschränken sich nicht nur auf einige wenige Ausnahmefälle. Genauso wenig sind sie zeitlich beschränkt – etwa auf die Obmannschaft des von Nehammer so geschmähten Herbert Kickl. Unvernünftige in der FPÖ zu finden, ist eine leichte Übung, wie auch das jüngste Beispiel zeigt: An einem Begräbnis, auf dem ein SS-Treuelied gesungen wurden, nahmen drei FPÖ-Männer teil. Dennoch spricht Nehammer von „sehr vielen Vernünftigen“, mit denen eine Koalition wohl möglich wäre. Es ist Teil seiner „Kickl nein, FPÖ ja“ Koalitionstaktik, die mittlerweile aber auch schon innerhalb der ÖVP unterminiert wird.
Wo sind die Vernünftigen?
Am 29.9. hat Österreich einen neuen Nationalrat gewählt. 300 Personen standen auf der Bundeswahlliste der FPÖ, dazu kommen die Landeswahllisten. Ein Mandat werden wohl 57 von ihnen erlangen. Gibt es unter ihnen Vernünftige? Die ersten neun Personen auf der Bundeswahlliste der FPÖ fallen allesamt durch; Kickl ohnehin. Nationalratsabgeordnete Susanne Fürst meint, den Klimawandel habe es „immer schon“ gegeben, die Energiewende sei „eine Katastrophe“ und die CO2-Neutralität zerstöre die Wirtschaft. Sie sehnt sich nach einem russischen Siegfrieden in der Ukraine, fürchtet sich vor dem WHO-Pandemievertrag, der eine heimliche Abschaffung der Demokratie bezwecke, und war während der COVID-19-Pandemie eine scharfe Maßnahmengegnerin. Erst unlängst fiel sie dadurch auf, dass sie in der EU „Remigrations-Kommissarin“ werden wollte. Der Begriff stammt von den Identitären. Gemeint ist die Deportation von sogenannten nichtassimilierten Personen mit Migrationshintergrund, selbst wenn diese die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.
Auf Listenplatz drei kandidiert der alte Herr der deutschnationalen Burschenschaft Nibelungia zu Wien, Christian Hafenecker, der wiederholt rechtsextreme Einzelfälle in seiner Partei herunterspielte, für gefälschte Corona-Tests wegen Datenfälschung nicht rechtskräftig verurteilt wurde und sich sogar nach Genozid-verherrlichenden Aussagen explizit nicht von den Identitären distanzierte. Nach ihm kommt die studierte Medizinerin Dagmar Belakowitsch, die wiederholt Falschinformationen zur COVID-19-Pandemie verbreitete und wie ihr Parteiobmann der Meinung ist, das Recht solle der Politik folgen, nicht die Politik dem Recht. Abschiebungen auch in Kriegs- oder Krisengebiete wie Syrien oder Afghanistan findet sie wünschenswert und scheint auch hier der Meinung Kickls zu folgen:
„Menschenrechte sind seltsame rechtliche Konstruktionen […], die uns daran hindern, das zu tun, was notwendig ist.“
Ihr Kollege Michael Schnedlitz ging noch einen Schritt weiter, indem er im Parlament einen direkten Angriff auf die Demokratie wagte, als er sagte: „Der Rechtsstaat und die Demokratie, das ist das Sytem, das jetzt auf der Butterseite liegt.“ Die FPÖ sei die einzige Partei, die „nicht Teil dieses Systems ist“. Auf den Plätzen sechs, sieben und acht kandidierten die Ökonomin Barbara Kolm, der Chef der FP Burgenland Alexander Petschnig und die blaue Propagandistin Lisa Gubik von FPÖ-TV. Kolm ist in einen Korruptionsskandal verwickelt, Petschnig steht den Identitären nahe. Vernünftig ist keine:r von ihnen.
Auf Listenplatz neun finden wir einen der FPÖ-Chefideologen, den Juristen Norbert Nemeth. Er ist Mitglied der schlagenden deutschnationalen Burschenschaft Olympia, die eine Zeit lang wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung ihrer Mitglieder verboten war und vom Dokumentationsarchiv Österreichischer Widerstand (DÖW) als „radikaler Stoßtrupp“ bezeichnet wird. 1996 verteidigte Nemeth im rechtsextremen und FPÖ-nahen Magazin Aula den Neonazi Gottfried Küssel, und er sprach sich gegen das NS-Verbotsgesetz aus. Die Olympia pflegt auch Kontakt zu den Identitären. Nemeth stellte die Europäische Menschenrechtskonvention öffentlich infrage.
Für Ministerien ungeeignet
Auf der Bundeswahlliste finden wir sie also nicht, die sogenannten Vernünftigen. Wer soll dann im Fall von Türkis-Blau II Minister:in werden? Einige Namen werden immer wieder genannt. Unter ihnen finden wir – neben den bereits oben erwähnten Belakowitsch, Fürst und Kolm – etwa Petra Steger. Die EU-Abgeordnete ist die Tochter des ehemaligen Parteiobmanns Norbert Steger und eine blaue Hardlinerin. Auch sie pflegt Kontakt zu den Identitären. Den von ihr als „Klimawahnsinn“ bezeichneten Kampf gegen die Auswirkungen der Erderwärmung sieht sie als Wohlstands- und Arbeitsplatzvernichter, und der Europäische Green Deal würde die Emissionen bloß ins Ausland verlagern und die heimische Industrie zerstören. Sie ist gegen Russland-Sanktionen und gegen EU-Hilfen für die Ukraine. Auch der stellvertretende Klubobmann der Freiheitlichen im Nationalrat, Hannes Amesbauer, gilt in eingeweihten Kreisen als ministrabel. Als Jugendlicher wurde er wegen Hakenkreuz-Schmierereien überführt. Später verfasste er Beiträge für die rechtsextreme, inzwischen eingestellte Aula. Er ist Mitglied der schlagenden Burschenschaft „Oberösterreichische Germanen in Wien“.
Wie wir gesehen haben, ist die FPÖ also keinesfalls eine Partei von vielen Vernünftigen, die bloß in der Geiselhaft des Herbert Kickl gehalten wird. Auf der gesamten Bundesliste kann man allerhöchstens fünf Personen finden, die man als halbwegs vernünftig bezeichnen könnte. Nur zwei davon haben eine realistische Chance auf ein Mandat. In der ersten Reihe ist keine:r von ihnen. Selbst unter jenen FPÖ-Kandidat:innen, die potenziell für Minister:innenposten gehandelt werden, finden sich einige, die aufgrund ihrer rechtsextremen oder wissenschaftsfeindlichen Gesinnung ungeeignet scheinen, Verantwortung für etwas so Wichtiges wie ein Ministerium zu tragen. Sollte die ÖVP also mit der FPÖ koalieren, ob mit oder ohne Kickl, ist das bestenfalls fahrlässig, eher aber völlig verantwortungslos. Eine Koalition mit der FPÖ, das ist eine Koalition mit Rechtsextremen, Wissenschaftsleugner:innen, Verschwörungstheoretiker:innen und Korrupten. Wir wissen, was dabei herauskommt.