Wie liberal ist … das Fahrrad?
Eine liberale Liebeserklärung an das Fahrrad.
Kaum etwas ist so sinnbildlich für unseren polarisierten und emotionalisierten Diskurs wie die immer stärker werdende Debatte im deutschsprachigen Raum über Mobilität und Verkehrsinfrastruktur.
Dass diese aktuell an Intensität gewinnt, ist den größten Krisen unserer Zeit geschuldet: Der Krieg in der Ukraine hat die (ohnehin bereits hohen) Preise für Erdölprodukte noch einmal in die Höhe schnellen lassen und Diskussionen über die Kosten von Mobilität befeuert. Gleichzeitig droht – wieder – ein Sommer mit Rekordtemperaturen und Dürre, der zweifelsfrei auf den vom Menschen verursachten Klimawandel zurückzuführen ist. Zusätzlich wird die Debatte von einem möglichen Verbot für die Neuzulassung von Verbrennungsmotoren durch die EU ab 2035 verstärkt sowie durch überlastete Züge, weil mit dem Klimaticket und dem 9-Euro-Ticket in Deutschland die Nachfrage nach Bahnreisen das vorhandene Angebot überfordern. Hier geht es längst nicht mehr um Evidenz und konstruktive Mobilitätsvisionen – sondern um Lagerdenken.
Das Fahrrad und die liberale Bubble
Das Fahrrad und sein Platz im Verkehr und öffentlichen Raum polarisiert in dieser evidenzarmen und vergifteten aktuellen Debatte um Mobilität ganz besonders. Es steht für auffallend viele für ein fortschritts- und technikfeindliches Weltbild des „grünen“ Lagers, für schmächtige Veganer:innen und kleinlichen, moralisierten Klimaschutz auf Basis von persönlichem Verzicht und freiwilliger Armut.
Fahrradfahrer:innen wären bestenfalls im Weg, chronische Missachter der Straßenverkehrsordnung und würden im Gegensatz zu Autofahrer:innen kaum Steuern zahlen. Auffallend ist, wie viele Liberale und Libertäre derartige Positionen lautstark vertreten und das Auto als Nonplusultra der Mobilität hochhalten. Hierfür werden gern sämtliche liberale Prinzipien relativiert oder gänzlich über Bord geworfen: Dieselben, die aus gutem Grund Mietpreisdeckel abgelehnt haben, verteidigen Markteingriffe, wenn es um die Senkung von Treibstoffpreisen geht. Inbrünstige Verteidiger von Privateigentum haben überhaupt kein Problem damit, für fragwürdige Straßenprojekte zigfach Menschen zu enteignen. Kämpfer:innen für einen schlanken Staat und niedrige Steuerlasten lieben plötzlich den großen Staat, wenn er ihnen vergleichsweise teure Auto-Infrastruktur baut, Pendlerpauschalen auszahlt oder die massiven und zigfach belegten externalisierten Kosten von Automobilität auf die Allgemeinheit abwälzt.
Hier geht es nicht darum, motorisierte Individualmobilität zu verteufeln oder grundsätzlich infrage zu stellen. Sie wird auch – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in elektrifizierter Form – in einer klimafreundlichen Zukunft ein wichtiger Bestandteil des Mobilitätsmixes sein – und auch sein müssen. Es ist auch klar, dass nicht jede:r immer ein Fahrrad verwenden können wird oder will. Ich will aber eine Lanze für das Fahrrad brechen und der reflexartigen Ablehnung weiter Teile des liberalen und bürgerlichen Lagers mit Fakten begegnen. Eine stärkere Rolle des Fahrrads in unserer Mobilität – vor allem im Alltag – ist nicht nur mit progressiven Werten wie Freiheit und Individualität vereinbar, sondern auch mit einem starken Wirtschaftsstandort und einem schlanken Staat.
Radinfrastruktur rentiert sich
Fahrradmobilität erfordert ein Minimum an staatlichen Investitionen und Aufwand. Selbst der von Fahrradbefürworter:innen geforderte massive Ausbau der Radinfrastruktur würde einen winzigen Bruchteil der (mit Steuergeld finanzierten) Ausgaben für Autobahnen, Schnellstraßen etc. darstellen. Schon alleine durch die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen wäre das Geld mehrfach wieder drinnen. Studien zeigen eindrucksvoll: In den Städten und Ländern, wo die Mobilität auf das Auto ausgerichtet ist, steigen die Gesundheitskosten für Individuen und Staat massiv an, während Fahrradländer wie die Niederlande oder Dänemark wegen der verstärkten Bewegung der Bevölkerung, der niedrigen Schadstoffbelastung und weniger Unfällen zweistellige Milliardenbeträge einsparen. Das bestätigt Studie für Studie für Studie. Und dafür braucht man weder Verbot, Verzicht noch Armut. In Amsterdam werden ca. 70 Prozent der Alltagswege mit dem Fahrrad erledigt, trotzdem ist weder der Kommunismus ausgebrochen noch die Wirtschaft versandet. Es braucht nur den politischen Willen, der Fahrradinfrastruktur einen ausreichenden Teil des öffentlichen Raums bereitzustellen.
Der positive Nutzen erstreckt sich über viele Bereiche und reicht von reduzierter Lärmbelastung über weniger Feinstaub hin zu gestiegener Lebensqualität. Vor allem sind auf nachhaltige Mobilität ausgerichtete Straßen und Städte auch wirtschaftlich messbar erfolgreich – denn Gastronomie, Handel und Immobilienwirtschaft profitieren nachweislich von der Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums. Kein Geschäft, Café oder Restaurant würde jemals Verkehrsberuhigungen in der Wiener oder Salzburger Innenstadt rückgängig machen. Da scheint es erstaunlich, dass wir viel Geld dafür ausgeben, zwei bis drei Wochen im Jahr in ruhigen Hotelanlagen ohne Autos zu entspannen, auf ruhigen Wegen zu radeln oder auf den Piazze und Plazas Südeuropas zu chillen, aber ein erbitterter Kampf gegen jeden Versuch geführt wird, die Städte und Ortschaften, wo wir unseren Alltag verbringen, nur ansatzweise so zu gestalten.
Unabhängige Mobilität ohne Kostenfallen
Bei den individuellen Kosten für autozentrierte Mobilität ist es noch drastischer: Gerade in der aktuellen Energiekrise, in der man fürs Volltanken dreistellige Beträge hinblättern muss, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, unsere Infrastrukturen, Städte und Wirtschaft so zu gestalten, dass das Auto in der Praxis oft alternativlos ist. Und bei aller Debatte um den Treibstoff: Kosten für Anschaffung, Versicherung, Reparaturen, Parkplätze etc. machen bei durchschnittlicher Nutzung umgerechnet immer noch einen Großteil der Kosten aus. Dagegen sind die Kosten für die Anschaffung und den Erhalt eines Fahrrads verschwindend gering – und wer die Alternative Fahrrad nutzen kann, spart sich im Jahr viel, viel Geld.
Eine sichere und praxistaugliche Fahrradinfrastruktur bedeutet vor allem auch für Kinder und Jugendliche Lebensqualität, eigenverantwortliche Mobilität und befreit ohnehin gestresste Eltern von Taxidiensten. Gerade bei dieser Gruppe hat Bewegungsmangel furchtbare Auswirkungen – aber wer will schon seine Kinder alleine auf Landstraßen fahren oder in zugeparkten Gassen fahren lassen, wo sie eine:n unachtsame:n Fahrer:in vom Tod entfernt sind? Betagte Menschen sollen sich ja auch ohne (teures) Auto bewegen und Alltagswege erledigen können. Kaum etwas wird von Ärzt:innen für ein langes Leben häufiger verschrieben als „mehr Bewegung“. Wollen wir nicht eine Infrastruktur, die es just unseren „Schwächsten“ ermöglicht, sich ohne Aufsicht eigenverantwortlich zu bewegen?
Aus liberaler und individualistischer Perspektive sollte das alles eigentlich erstrebenswert sein: Menschen, die täglich mit dem Fahrrad pendeln, sind statistisch betrachtet glücklicher, arbeiten produktiver und sind seltener im Krankenstand. Sie sind unabhängig von Staus, Streiks und Fahrplänen. Der Staat investiert vergleichsweise wenig Geld, spart an vielen Stellen ein Vielfaches ein, und jene Menschen, die aus welchen Gründen auch immer Rad fahren wollen, können dies ohne Zwang sicher und unkompliziert machen. Das Ergebnis sind erfülltere Individuen, welche mehr Geld für sich zur Verfügung haben und den Staat weit weniger kosten.
Das Fahrrad steht für Freiheit
Wieso wird dann immer noch so oft von Liberalen argumentiert, dass es entgegen jeder Evidenz gesellschaftlich und wirtschaftlich erstrebenswert sei, dass Menschen einen immer größeren Anteil ihres Einkommens dafür ausgeben, im Verkehr zu sitzen, davon langsam krank zu werden und die Kosten dafür letztendlich auf alle anderen abzuwälzen? Warum haben so wenige selbsterklärte Vorkämpfer:innen des Liberalismus und Individualismus ein fundamentales Problem damit, dass unsere Alltagsmobilität davon abhängig ist, einen beträchtlichen Teil unserer Einkommen und Gesamtwirtschaftsleistung in die Staatskonzerne und Kassen der illiberalsten Regime der Welt zu schleusen?
Natürlich wird das Rad nicht sofort für jeden eine praxistaugliche Alternative darstellen – auch nicht bei entsprechend sicherer, baulich getrennter Infrastruktur. Kein ernstzunehmender Akteur behauptet oder fordert das. Aber gerade in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Arbeits- und Alltagswege weniger als einer halben Stunde gemütlichem Radeln entsprechen, gilt es einfach nur, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn zig Praxisbeispiele zeigen, dass das Angebot sofort Nachfrage erzeugt.
Das Fahrrad kann – vor allem mit der richtigen Infrastruktur – für Freiheit, Flexibilität und Lebensqualität stehen, sowie für persönliche Ersparnisse, niedrigere Staatsausgaben und weniger Geld für die eigentlichen Feinde der Freiheit. Um dafür zu argumentieren, braucht man weder über klimapolitische Verantwortung zu sprechen noch Verzicht predigen. Das Fahrrad ist bei weitem nicht die Lösung für alle mobilitätspolitischen Probleme, aber es sollte auch für Liberale weit mehr sein als eine billige Pointe im Kulturkampf mit Linken oder grünen Ökohippies.