Gerechtigkeit statt Gleichheit
Gleichheit. Klingt gut, oder? Der Begriff hat ein positives Image, alle wollen gleich sein, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und so. Und vor allem der Begriff „Chancengleichheit“ hat es vielen angetan.
Aber das Geheimnis ist: Chancen müssen nicht gleich sein, sie müssen nur gerecht sein. Wer aus einem Haushalt kommt, in dem bereits die Eltern und Großeltern studiert und beim Abendessen über Politik diskutiert haben, wird in der Regel alle Bildungschancen genießen, die es gibt. Trotzdem muss man seine Herkunft nicht verleugnen, um Privilegien abzulegen. Denn es ist auch erlaubt, persönliche Vorteile durch die eigene Familie zu genießen. Aber trotzdem halten viele an der Vorstellung von Chancengleichheit fest, und am Narrativ: Erst dann, wenn alle gleich sind, ist die Gesellschaft gerecht.
Ein gewisser Anti-Ungleichheits-Reflex ist an und für sich verständlich. Nicht nur die ältesten Hochkulturen, sondern auch uralte Stammesgesellschaften, die heute noch existieren, haben darin einen verlässlichen Mechanismus gegen „Free-Riding“ gefunden: Wer zu viel von der Gruppe für sich selbst nimmt, wird zur Belastung für die Gruppe. Als diesen Menschen kann man im heutigen Kontext einerseits jemanden sehen, der Sozialleistungen bezieht, ohne ins System einzuzahlen – oder aber die Superreichen. Links und Rechts sind sich nur in der Analyse uneinig, aber beiden liegt ein starker Gleichmachungsdrang zugrunde.
Die Fallstricke der „Chancengleichheit“
Die Mär einer „Chancengleichheit“ mag zwar ein gutes Ziel verfolgen – die beste Bildung für alle –, würde aber de facto bedeuten, auch positive soziale Kontexte auszugleichen. Diese Überlegung öffnet die Büchse der Pandora: Bevorzugung für Menschen aus benachteiligten Haushalten wird zur Benachteiligung für Menschen aus übervorteilten. So wird der Staat zum zentralen Steuerungsorgan, das entscheidet, an wen Chancen im Leben „verteilt“ werden und an wen nicht.
Erste Ansätze dieser Denkweise sieht man schon vereinzelt an Universitäten, vor allem im angloamerikanischen Raum. Privilegierte Studierende, also etwa weiße Männer, sollen dabei reflektieren, wie viel leichter sie es im Leben hatten und immer noch haben. Das ist an sich noch kein Problem, eine Reflexion darüber, dass es andere schwerer haben könnten, ist kein Drama. Moralisch schwierig wird es, wenn daraus eine Wertigkeit abgeleitet wird: Wenn Weiße, wenn Männer im Auswahlverfahren im Zweifelsfall den Kürzeren ziehen, weil die Universität entscheidet, wer es mehr „verdient“ hat – und dafür andere Faktoren heranzieht als Leistung.
Denn das ist es, worum es eigentlich gehen sollte: Leistung. Sofern Männer und Frauen den gleichen Zugang zu Bildung haben – und um das sicherzustellen, sind Schulen auch eine staatliche Aufgabe –, können wir uns darauf verlassen, dass diese Kategorie aussagekräftig ist. Erst wenn wir das verfehlte Ziel „Chancengleichheit“ heranziehen, kommen wir auf die Idee, strukturelle Unterschiede mit konkreter Benachteiligung anderer auszugleichen. Bis man darauf vergisst, dass die indischstämmige Frau aus einer reichen Familie kommt und einen wesentlich besseren Startvorteil ins Leben hatte als der weiße Mann aus schlechten Verhältnissen.
Chancengerechtigkeit: Nicht gleich, aber fair
Viel besser ist der Begriff Chancengerechtigkeit. Mit ihm findet man einen Umgang damit, dass manche bereits mit Vorteilen ins Leben gestartet sind. Gefördert werden die, die es brauchen, ohne dass das einen Nachteil für die bedeuten muss, die sonst nichts brauchen.
Ohne das Vorhaben, Bürgerinnen und Bürger in der sozioökonomischen Hierarchie nach oben und unten zu „korrigieren“ und damit anzugleichen, spart sich die ganze Gesellschaft ein enormes Stück Arbeit, das gar nicht getan werden muss. Denn es ist eigentlich gar kein Problem, wenn Kinder mit reichen Eltern auch studieren dürfen – das Problem haben wir nur, wenn man dafür reiche Eltern braucht. Dass es andere im Leben leichter hatten oder haben, mag auf individueller Ebene bitter sein, aber man sollte daraus keine staatliche Aufgabe ableiten. Wichtig ist, dass man selbst mehr Chancen hat, nicht dass andere weniger haben.
In dieser Begrifflichkeit ist die Leistung der systemimmanente Faktor, durch den man sich etwas aufbauen kann. Eine liberale Gesellschaft ist eine, in der man unabhängig von der sozialen oder geografischen Herkunft alles erreichen kann, indem man gut darin ist. Dieser Gesellschaftsentwurf liefert deutlich bessere Ansätze: Statt zu schauen, wen man auf welcher Grundlage bevorteilen oder benachteiligen kann, geht es darum, selbst etwas zu tun. Menschen sind Individuen – nicht nur die Summe ihrer Kategorien.
Gleichheit vs. Gerechtigkeit im Bildungssystem
Ein Beispiel: Im Bildungssystem geht es dabei vor allem um Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Ein Begriff, der an sich schon verfehlt ist, weil er eine Hierarchie aufstellt: Je mehr Bildung, desto besser. Es insinuiert, dass Studierende der Kultur- und Sozialanthropologie eine größere Wertigkeit für Österreich hätten als Installateurinnen und Installateure. Eine falsche Interpretation von „mehr Chancen im Leben“.
Richtig aber ist: Wenn deine Eltern studiert haben, ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass auch du studieren wirst. Bildung wird in Österreich wirdnach wie vor „vererbt“, die Jungen tun oft das, was die Alten vor ihnen auch gemacht haben. Das heißt nicht, dass es „besser“ ist, zu studieren – aber wer glaubt, dass ihm die Universität nicht offen steht, dem stehen weniger Türen im Leben offen. Wenn es darum geht, jedem Kind alle Chancen zu geben, ist das also nicht so zu verstehen, dass jedes Kind studieren muss. Sondern so, dass jedes Kind studieren kann.
Wer also als erstes in der Familie studiert und sieht, dass an der Uni hauptsächlich Menschen sind, deren Eltern ihnen den Weg erklären konnten, mag das als unfair empfinden. Aber das eigene Leben wäre auch nicht leichter, wenn das der anderen schwerer wird. Bei Chancengleichheit geht es darum, gleiche Outcomes für alle zu erzeugen und dafür neue Mechanismen zu erfinden. Chancengerechtigkeit aber beschäftigt sich nicht damit, es anderen schwerer zu machen, sondern nur manchen leichter. Es geht darum, dass du auch ohne reiche Eltern studieren kannst.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
All das heißt nicht, dass wir der Gleichheit für immer in allen Bereichen entsagen sollten. Ein gewisses Ausmaß an sozialem Ausgleich ist in allen Gesellschaften notwendig, um Stabilität zu bewahren. In Österreich wird diese Balance durch den Sozialstaat ermöglicht, aber auch hier gibt es offene Debatten: etwa der Abstand zwischen dem, was man für 40 Stunden, für 30 Stunden oder durch die Mindestsicherung verdient. Wer wie viel einzahlt, wer wie viel herausbekommt, wie viele Steuern zu viel sind und ab wann es Entlastung braucht, das sind Fragen, die politisch ausverhandelt werden.
Wichtig ist aber das Gesellschaftsmodell hinter diesen Überlegungen. Wollen wir eine Gesellschaft sein, in der wir alle vom Staat gleich gemacht werden? Dann ist die Aufgabe der Politik, neue Kategorien zur Auf- und Abwertung von Menschen vorzunehmen. Oder aber wollen wir eine Gesellschaft sein, in der Leistung zählt und der Staat nur aushilft, um jedem Menschen alle Chancen zu geben? Dann geht es darum, wem man wie helfen muss – wer aber den Staat nicht braucht, wird an nichts gehindert.
Im Endeffekt ist Chancengerechtigkeit das weit überlegene politische Ziel, weil es die richtigen Anreize setzt und dem Staat die richtigen Aufgaben zuweist. Das bedeutet nicht, dass damit alles perfekt ist. Aber wer identitätspolitische Wertigkeitsdebatten aus der Politik heraushält, hat schon viel gewonnen.