Kunst oder Künstler: Darf man das noch gut finden?
Was tun, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin Großartiges geschaffen hat, im Privaten aber kontrovers gesehen wird oder gar straffällig ist? Noch komplizierter ist es, wenn eine solche Person nur ein Teil eines größeren Ganzen – zum Beispiel einem Film – ist. Roman Polanski und Harvey Weinstein würden beide in diese Kategorie fallen. Wie verfährt man weiters mit Künstler:innen, über die die Öffentlichkeit ein Urteil gefällt hat, diese später aber freigesprochen wurden? Und was ist mit der Causa Richard Wagner?
Es ist ein Leichtes, private Verfehlungen oder gar Straftraten bei Kunstschaffenden (oder Personen des öffentlichen Lebens) zu finden – in der Regel sind es tatsächlich meistens Männer, deren Fälle derart prominent durch die Medien gehen. Die Frage, die man sich dann stellen kann, ist, ob man weiterhin verfolgt, was die Person tut oder konsumiert, was sie produziert; und falls ja, ob man es gut finden darf. Letzteres muss in jedem Fall bejaht werden – sonst würde der Radius für Dinge, die man bedingungslos gut finden darf, schnell sehr eng werden.
Kalifornische Doppelzüngigkeit
Hollywood ist ein interessantes Biotop. Der Ort, an dem Sterne aufgehen und Karrieren gemacht werden. Und jener, an dem sie genauso schnell wieder erlöschen können. In Kalifornien legt man mitunter aber eine bemerkenswerte Doppelzüngigkeit an Tag. Man könnte es sogar Heuchelei nennen. Ein Beispiel: 2002 erhielt Regisseur Roman Polanski einen Oskar für das Weltkriegsdrama Der Pianist – inklusive Standing Ovation bei der Verleihung. Anwesend war Polanski nicht, sonst hätte ihn die Polizei wohl an Ort und Stelle verhaften müssen. Denn der 1933 geborene Polanski bekannte sich 1977 schuldig, Sex mit einer damals 13-jährigen gehabt zu haben, und lebt seither in Staaten, die kein Auslieferungsabkommen mit den USA haben. Ist Der Pianist deshalb ein Film, den man in den Giftschrank stellen sollte? Er bleibt ein handwerklich und nach objektiven Kriterien gut gemachter Film, mit tollem Schauspiel, bewegendem Soundtrack und eindrucksvollen Bildern; ein Produkt, an dem hunderte Leute mitgewirkt haben. Also ja, man darf sich diesen Film natürlich auch heute noch ansehen und gut finden – und gleichzeitig Polanski für seine Tat und sein feiges Verhalten verurteilen.
Dasselbe gilt für Harvey Weinstein, Filmmogul und mächtiger Mann der Weinstein Company, dem Studio hinter dem brillanten Quentin Tarantino. 2020 wurde Weinstein wegen Vergewaltigung zu 23 Jahren Haft verurteilt. Es war wohl ein offenes Geheimnis, dass Weinstein Frauen belästigte, erpresste und missbrauchte. Das wusste auch Tarantino und sagte, darauf angesprochen:
„I knew enough to do more than I did.“
Das ist zumindest ein Eingeständnis des eigenen Versagens – macht Tarantino aber nicht zu einem weniger genialen Filmemacher. Pulp Fiction oder Django Unchained bleiben herausragende Filme, auch wenn Harvey Weinstein dafür das Portemonnaie geöffnet hat.
Über (Vor-)Verurteilungen
Was tun, wenn die Öffentlichkeit bereits einen Schuldspruch beschlossen hat, der Beschuldigte in weiterer Folge aber freigesprochen wird? So geschehen bei Kevin Spacey, einem der besten seiner Zunft. Seine Vita – Beeindruckend: Sieben, American Beauty, Die Üblichen Verdächtigen und zuletzt House of Cards. 2017, im Zuge der #MeToo-Bewegung, wurden Anschuldigungen wie sexuelle Belästigung publik. Das öffentliche Urteil fiel rasch und hart: Schuldig! Netflix feuerte seinen Hauptdarsteller, und House of Cards fand ohne Frank Underwood ein grottenschlechtes Ende. Spacey wurde von der Öffentlichkeit also schuldig gesprochen, bevor sich die Justiz der Sache überhaupt annehmen konnte – und wurde am Ende von den Gerichten freigesprochen. Vorverurteilungen können also auch nach hinten losgehen, obwohl ein Freispruch natürlich nicht immer Unschuld bedeutet. „If it doesn’t fit, you must acquit“ – man erinnert sich an den Freispruch O.J. Simpsons.
Der Fall Richard Wagner(s)
In der Klassik gibt es einen berühmten wie kontroversen Fall, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf, wenn es um die Frage geht, ob man Kunst vom Künstler trennen soll – oder kann. Wagner, oder vielmehr seine Musik, wird geschätzt, seine Person mitunter bewundert – und auf einem Hügel in Bayreuth vergöttert. Warum darf man Wagner und seine Musik aber gleichermaßen bewundern oder verabscheuen? Es gibt viele Schichten, die man für die Antwort auf diese Frage durchdringen muss.
Wagner war eine schillernde Figur des 19. Jahrhunderts, ausgestattet mit einem gigantischem Ego, subversiven Tendenzen und einem teurem Lebensstil. So teuer, dass er ihn nur dank Gönnern wie Franz Liszt und dem Märchenkönig Ludwig II. erhalten konnte. Es lag insbesondere an Ersterem, dass Wagner zu dem wurde, wofür er heute gefeiert wird. In einem seltenen Anflug von Realismus soll er einst zu Liszt gesagt haben: Ohne dich wäre ich harmonisch ein anderer Kerl geworden. Worauf Liszt allerdings keinen Einfluss ausüben konnte, war Wagners Antisemitismus – „Das Judenthum in der Musik“ ist als antisemitisches Pamphlet des Opernkomponisten ein gleichermaßen bekanntes wie schändliches Werk. Unter anderem deswegen, aber auch, weil Wagner deutsche Legenden inszenierte, wurde er von Hitler verehrt. Dieser ging wiederum bei den Bayreuther Festspielen ein und aus und nutze sie für seine Propaganda. Wagners Schwiegertochter Winifred war selbst bis in die tiefen 1970er Jahre überzeugte Hitler-Anhängerin und nannte ihn wahlweise „Onkel Wolf“ oder USA – ein Akronym für „unser seliger Adolf“.
Solche Tatsachen, sprich die Nicht-Aufarbeitung in der Nachkriegszeit, erschweren Wagners Rezeption. Auf der anderen Seite kann der Komponist selbst natürlich nichts für Hitlers Vereinnahmung – für den Antisemitismus allerdings sehr wohl. Ginge es nur um Vereinnahmung durch die Nazis, man dürfte keinen der Großen heute noch hören. Weder Beethoven, der als Titan der Musikgeschichte sowohl als Person wie auch aufgrund seiner einzigartigen Tonsprache vereinnahmt wurde; noch Liszts – der als Ungar, Europäer und Enthusiast der Musik der Roma eigentlich ein Feindbild Hitlers hätte sein müssen – großartige sinfonische Dichtung Les Préludes, die die Wehrmacht missbrauchte; noch den genialen Mozart, der unter den Nazis plötzlich zum arischen Helden wurde.
Wer hat die Hoheit?
In Israel wurde Wagners Musik bis zur Jahrtausendwende mit einem Aufführungsverbot belegt, bis Daniel Barenboim ihn 2001 in Jerusalem unter Protesten dirigierte. Barenboim antwortete auf die Kritik gleichermaßen direkt wie verbindend: Wagner in Israel nicht zu spielen, käme einem nachträglichen Sieg der Nazis gleich.
Was Barenboim über Wagner sagt, gilt auch für alle anderen Fälle. Will man dem Verurteilten (juristisch, moralisch, oder beides) wirklich die Hoheit über seine Werke geben? Jemand, der nichts über Wagners Biografie weiß, würde seine Musik möglicherweise himmlisch finden. Vielleicht aber auch scheußlich – beides ist gleichermaßen okay. Genauso ist es legitim, Wagners Musik nicht mehr genießen zu können, wenn man um seinen flammenden Antisemitismus weiß. Oder sie trotzdem zu genießen, und ihm und seinen Gleichgesinnten nicht die Hoheit darüber zu überlassen.
Eine moderne Gesellschaft sollte derartige Spannungen zwischen Kunst und Künstler:in aushalten können. Man würde sich vielem versperren, wenn man Kunst nicht (weitestgehend) losgelöst vom Schaffenden konsumieren würde.