Leitkultur: Das letzte Gefecht der ÖVP
Seit Karl Nehammer Bundeskanzler ist, ändert die ÖVP alle paar Monate ihre Ausrichtung. Besonders sichtbar war das im letzten Jahr: Zuerst war Österreich „das Autoland schlechthin“, es folgte eine Scheindebatte rund ums Bargeld – das, wir erinnern uns, niemand abschaffen will – und dann eine Diskussion darüber, was Nehammer und Mikl-Leitner „normal“ finden.
Und jetzt eben der nächste Positionierungsversuch: Jetzt spricht die Volkspartei eben von „Leitkultur“. Eine Debatte, die in Deutschland schon vor vielen Jahren geführt wurde. Mit dem Ergebnis, dass das Grundgesetz als gemeinsamer Rahmen ausreiche. Die Deutschen haben verstanden, dass es um eine kulturelle Scheindebatte geht, die nichts Konkretes in unserem Leben verändert.
Was an der Leitkultur-Kampagne der ÖVP verfehlt ist: Sie definiert Österreich ausschließlich durch das, was ihre eigene Wählerschaft gerne hören würde. „Tradition und Brauchtum. Das gehört für uns zur Leitkultur.“ liest sich da auf Social-Media-Sujets. Was genau dahintersteckt, soll Ministerin Susanne Raab zusammen mit Expertinnen und Experten erarbeiten. Unter ihnen ist auch Katharina Pabel, eine radikale Abtreibungsgegnerin. Ist das schon die Leitkultur? Hoffentlich sieht die Volkspartei darin keinen Konnex zu ihrem Claim „Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen“.
Aber das zeigt schon gut, wo die Reise hingeht: Die Volkspartei bedient ein ländlich geprägtes, konservatives, katholisches und traditionelles Bild von Österreich. Das zweifellos existiert – aber eben nicht die ganze Gesellschaft abbildet. Und damit für eine Leitkultur-Debatte eher eine Themenverfehlung ist, weil die den Fokus einengt, statt einen gemeinsamen Rahmen zu schaffen. Die Partei will das, was sie für ihre Kernwählergruppe hält, mit Virtue Signalling an sich binden, um die unvermeidlichen Wahlverluste möglichst niedrig zu halten. Und bedient damit ein einseitiges Bild eines konservativen Österreich, ohne Städte und Diversität.
Aber Österreich ist mehr als das Klischee längst vergangener Tage. Nur weil die meisten von uns mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind, heißt das nicht, dass Zuwanderung bei uns keinen Platz hat. Im Gegenteil: In vielen Bereichen, von Tourismus bis Gesundheit, brauchen wir sie. Nur weil viele nach wie vor gerne mit dem Auto fahren und auch kein Problem mit dem Verbrenner haben, heißt das nicht, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Wir müssten die Rahmenbedingungen schaffen, auch am Land alternative Mobilität zu ermöglichen, vor allem E-Autos und öffentlichen Verkehr. Und nur weil es in größeren Städten – die mittlerweile äußerst selten von der ÖVP regiert werden – andere Lebensrealitäten gibt, heißt das nicht, dass die nicht Teil von Österreich sind.
Das wäre nämlich die eigentliche Leitkultur einer gesunden liberalen Demokratie: Unterschiedliche Lebensentwürfe zuzulassen. Man kann stolz darauf sein, dass Österreich ein ländlich geprägtes Land ist, in dem Tradition und Brauchtum einen Platz haben, keine Frage. Man kann aber auch stolz darauf sein, in einer Stadt zu leben, in der es Infrastruktur und Kulturangebot gibt. Wir können stolz sein, ein Land zu sein, das schon mal gezeigt hat, dass es mit Zuwanderung umgehen kann, ob Ungarn-Krise oder gut integrierte Menschen aus den Staaten des früheren Jugoslawien, und wir können auch stolz sein, dass wir in einem kleinen Land eine kulturelle Vielfalt haben, die sich sehen lassen kann.
Aber das tut die ÖVP nicht. Sie definiert die Welt, in der sich ihre Kernwählerschaft sieht, zur allgemein gültigen Österreich-Variante um: Alles andere existiert nicht, ist illegitim und muss weg. Dabei tilgt sie einen wesentlichen Teil des Landes aus ihrem Narrativ, nämlich alles, was nicht ÖVP-dominiert ist. Damit trägt sie zur Spaltung der Gesellschaft bei – und widerspricht ihrem eigenen Kampagnen-Sujet, das vor wenigen Wochen noch gepostet wurde: „Ich möchte, dass unser Land das Gemeinsame nicht verliert.“
Ob die Kampagne wirklich verfängt, darf bezweifelt werden. Denn auch in der klassischen, ländlich geprägten ÖVP-Wählerschicht dominieren ganz andere Probleme als die Frage, ob Blasmusik Teil der österreichischen Identität ist. Im echten Leben geht es vielmehr um den Wirten, der zusperrt, um die Ortskerne, die aussterben. Um die mangelhafte Infrastruktur, um Orte, die vom Auto abhängig sind, wo der Weg zu Fuß zum nächsten Supermarkt eine Wanderung ist. Da geht es um die Frage, wann man einen Termin im Spital oder in der Arztpraxis bekommt, oder darum, wie viel – oder eher wenig – Angebot für Kinderbetreuung da ist. Wir erinnern uns: Die Ankündigung der ÖVP, 4,5 Milliarden für die Kinderbetreuung zu investieren, ist im Budget nicht auffindbar.
Vielleicht ist es auch vermessen zu verlangen, dass sich die Regierungspartei ÖVP auf ihre Kernaufgaben konzentrieren soll. Nach 37 Jahren in Folge in der Bundesregierung würde wohl jede Partei den Fokus auf die wichtigen Themen verlieren. Aber dass die Volkspartei, die vorgezogene Neuwahlen angeblich nur verhindert haben soll, um noch notwendige Reformen durchzusetzen, auf die nächste Scheindebatte setzt, ist bitter. Aber wer weiß – vielleicht darf sie sich schon in wenigen Monaten auf etwas anderes konzentrieren. Nämlich darauf, was sie inhaltlich für dieses Land will.