Ordnungsrufe – Zwischen Verantwortung und Theater
Wer braucht Reality TV, wenn die Realität so viel unterhaltsamer ist? Dieser Gedanke kam mir unweigerlich am 20.11.2024, als ich die letzte Plenarsitzung des Nationalrats verfolgte – oder, besser gesagt, sie mich verfolgte. (Der „gute Teil“ ist leider noch nicht in der Mediathek.) Während ich meine Arbeit gemacht habe, habe ich leise im Hintergrund die Plenarsitzung auf meinem Laptop laufen lassen. Dabei ist das Geschehen im Hintergrund immer mehr in den Vordergrund gerutscht. Es wurde lauter, und plötzlich war sie da – die Glocke. Und dann hat es mich erwischt. Der noch neue Zweite Nationalratspräsident Peter Haubner bekommt etwas zugeflüstert und verhängt einen Ordnungsruf gegen Abgeordneten Michael Schnedlitz von der FPÖ.
Worum es hierbei ging? Das ist natürlich nicht unerheblich, aber viel interessanter ist, was danach passiert ist. Nacheinander haben sich Abgeordnete aus allen Parteien zu Wort gemeldet, es wurde lauter und lauter. Am Schluss hat sogar Bundeskanzler Karl Nehammer gesprochen. Ich hätte Popcorn dazu essen können, so spannend war das. Wie ein Krimi, bei dem man eigentlich wegschauen will, es aber einfach nicht kann. Dabei geht es eigentlich um viel. Im Kleinen geht es um den Respekt untereinander im Parlament, im Großen aber um unser Leben in Österreich. Die Dinge, die hier beschlossen werden, betreffen unser Leben jeden Tag auf irgendeine Art und Weise. Also sollte man meinen, dass die hier vertretenen Politiker:innen sich ihrer Verantwortung bewusst sind und im Interesse von uns allen handeln und agieren. Es ist nicht so, dass man ihre Arbeit mit der der meisten Österreicher:innen vergleichen kann. Weder inhaltlich noch was die Verantwortung betrifft.
Ein Ordnungsruf bezeichnet somit kein Kavaliersdelikt, sondern ist ein Hinweis darauf, dass Grenzen überschritten wurden – sei es durch Zwischenrufe, beleidigende Aussagen oder herabwürdigende Gesten. Interessanterweise hat dieser Mechanismus eine lange Tradition in der österreichischen Politik. Schon in den Anfangsjahren der Ersten Republik sorgten hitzige Debatten und persönliche Angriffe immer wieder für Ordnungsrufe. Besonders im späten 19. Jahrhundert, als das politische Klima zwischen Sozialdemokrat:innen und Christlichsozialen stark polarisiert war, flogen nicht nur Worte, sondern gelegentlich auch Gegenstände.
Zwischen Symbolik und Konsequenzen
Aber zurück zur Sache. Ich habe mir daraufhin die Mühe gemacht, mir anzuschauen, was allein dieses Jahr so an Ordnungsrufen reingekommen ist. Es waren insgesamt 37, 28 davon für Abgeordnete der FPÖ, vier für die ÖVP und fünf für die Grünen. Eine noch viel detailliertere Aufschlüsselung über alle Vergehen der aktuellen Legislaturperiode habe ich im Übrigen hier gefunden. Es ist ein Manifest in meinen Augen. Wofür bekommt man als Abgeordnete:r eigentlich einen Ordnungsruf? Das hat das Parlament klar festgelegt:
„Die Geschäftsordnung des Nationalrats sieht die Erteilung eines Ordnungsrufs vor, wenn ein:e Sitzungsteilnehmer:in (egal ob Abgeordnete:r, Regierungsmitglied oder z. B. auch EU-Parlamentarier:in) ,den Anstand oder die Würde des Nationalrates verletzt, beleidigende Äußerungen gebraucht, Anordnungen des Präsidenten nicht Folge leistet oder gegen Geheimhaltungsverpflichtungen aufgrund des Informationsordnungsgesetzes verstößt‘ (§ 102 Abs. 1 GOG-NR). Eine praktisch wortidentische Bestimmung enthält auch die Geschäftsordnung des Bundesrates in § 70 Abs. 1.
Soweit es sich um Äußerungen handelt, kommen für die Erteilung eines Ordnungsrufs grundsätzlich nur mündlich getätigte Äußerungen in Sitzungen (als Redner:in oder Zwischenrufer:in) infrage – nicht z. B. Äußerungen in schriftlichen Anfragen.
Gegenstand eines Ordnungsrufs kann aber – neben Äußerungen – auch ein sonstiges Verhalten im Sitzungssaal sein, das gegen den Anstand (z. B. eine herabwürdigende Geste) oder die Würde des Nationalrats bzw. Bundesrats oder gegen Anordnungen des Präsidenten bzw. der Präsidentin verstößt.“ So steht es auf der Parlamentsseite.
Wie kann es sein, dass das so ohne jegliche gröbere Konsequenz bleibt? Das könnte an der beruflichen Immunität der Abgeordneten liegen. Auch hier ist im Bundesrecht etwas verankert, Artikel 57 Abs. 1 B-VG. Es gibt allerdings 2 Ausnahmen: Verleumdung und nach dem Informationsordnungsgesetz strafbarer Geheimnisverrat. Nicht unter diesen Schutz der beruflichen Immunität gehören aber Pressekonferenzen, auch wenn diese im Parlament stattfinden, oder bei einer Wahlveranstaltung. In diesen Fällen kämen die Vorschriften über die außerberufliche Immunität zur Anwendung (Art. 57 Abs. 3 ff. B-VG).
Das Protokoll bitte
Man kann sich den Ordnungsruf also eher wie einen Tadel vorstellen, den man etwa früher in der Schule bekommen hat. Nur hatte es hier Klassenbucheinträge, schlechte Betragensnoten oder Gespräche mit den Eltern gegeben. Im Nationalrat wird im Normalfall ein Ordnungsruf vom Präsidenten oder der Präsidentin ausgesprochen, aber oft wird auch ein Ordnungsruf von einer anderen Fraktion eingefordert. Um dem stattzugeben, kann der:die Präsident:in dann ein stenografisches Protokoll anfordern, sollte er oder sie es nicht selbst gehört haben.
Im Allgemeinen hat ein Ordnungsruf im Nationalrat keine schlimmen Konsequenzen, außer natürlich das öffentliche Zur-Schau-Stellen von Fehlverhalten. Was passieren kann, ist, dass einer:m Abgeordneten das Wort entzogen wird. Ein bisschen schärfer geht es dann aber doch. Sollte einer:m Abgeordneten im Nationalrat mehrfach Ordnungsrufe in kurzer Aufeinanderfolge erteilt worden sein, dann kann der:die Präsident:in verfügen, dass Wortmeldungen dieses:r Abgeordneten für den Rest der Sitzung nicht entgegengenommen werden (§ 102 Abs. 3 GOG-NR). Auch das ist, wie ich finde, ein mildes Mittel. Wenn wir da in andere Länder schauen, gäbe es noch andere Möglichkeiten.
Im Allgemeinen hat ein Ordnungsruf im Nationalrat keine schlimmen Konsequenzen, außer natürlich das öffentliche Zurschaustellen von Fehlverhalten. Was passieren kann, ist, dass einer:m Abgeordneten das Wort entzogen wird. Ein bisschen schärfer geht es dann aber doch. Sollte einer:m Abgeordneten im Nationalrat mehrfach Ordnungsrufe in kurzer Folge erteilt worden sein, dann kann der:die Präsident:in verfügen, dass Wortmeldungen dieses:r Abgeordneten für den Rest der Sitzung nicht entgegengenommen werden (§ 102 Abs. 3 GOG-NR). Auch das ist, wie ich finde, ein mildes Mittel. Wenn wir da in andere Länder schauen, gäbe es noch andere Möglichkeiten.
So ganz ohne Bußgeld geht es dann aber doch nicht. Ein Ordnungsgeld ist nur in einem Fall vorgesehen: Sollten Informationen, die nicht in die Öffentlichkeit gehören, ausgeplaudert werden. Zum Beispiel in einer Rede oder in einem Zwischenruf, bei Untersuchungsausschüssen oder bei etwas, was in einem Interview erzählt wird, was nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll. In diesen Fällen kann der:die Vorsitzende ein Ordnungsgeld festsetzen. Natürlich kann dann der:die Abgeordnete dagegen Einspruch erheben; über diesen entscheidet anschließend der Geschäftsordnungsausschuss. Das Ordnungsgeld würde dann vom Gehalt abgezogen werden.
Anders läuft es da zum Beispiel bei unseren deutschen Kolleg:innen. Ein Ordnungsruf bleibt auch dort Ordnungsruf. Die Rüge hingegen ist in der Geschäftsordnung des Bundestags nicht geregelt, man könnte die eher als Brauchtum im Parlamentarismus bezeichnen. Allerdings werden deutsche Bundestagsabgeordnete bei größeren Verfehlungen seit dem 4. März 2021 auch zur Kasse gebeten. Da wurde das Ordnungsgeld eingeführt und soll bei größeren Störungen zum Einsatz kommen. In erster Instanz sind es 1.000 Euro, im Wiederholungsfall sogar bis zu 2.000 Euro.
Es geht immer schlimmer
Wo in Österreich und Deutschland unter großen Anführungszeichen „nur dazwischengeschrien wird“, geht es in anderen Ländern deutlich unsittlicher zu. Jüngster Fehltritt war zum Beispiel die Schlägerei im türkischen Parlament im August oder der Schlagabtausch im italienischen Parlament im Juni. Im Mai wurde sich in Taiwan geprügelt, und im April gab es eine wilde Schlägerei in Georgien. Und auch wenn es jetzt in diesem Kommentar nicht darum gehen soll, mit dem Finger auf andere zu zeigen, so sind es doch hauptsächlich Männer, die ihre Emotionen nicht unter Kontrolle haben und mit Fäusten austragen, was in einem verbalen Schlagabtausch deutlich sinnvoller gewesen wäre. Um zurück nach Österreich zu kommen: Da sind es übrigens fünf Frauen, die dieses Jahr einen Ordnungsruf erhalten haben, die restlichen 18 waren Männer.
Jetzt könnte man natürlich das Ungleichgewicht an Männern und Frauen im Nationalrat ansprechen und sich prozentuell ausrechnen, wie ausgewogen das letztendlich dann ist… Okay ich mache es. In der 27. GP waren es 111 Männer und 72 Frauen oder 39,34 Prozent Frauen im Parlament. Nicht die Hälfte, aber fast und damit deutlichst mehr Männer, als Frauen die sich einfach nicht so gut kontrollieren können. Wie hat das die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zuletzt so gut gesagt? Ihr spontaner Gedanke beim Anblick der Auseinandersetzungen zwischen Scholz und Lindner sei gewesen: „Männer!“ Auf die Frage, was ihr typisch männlich vorgekommen sei, sagte Merkel: „Zum Beispiel, Dinge persönlich zu nehmen. Das sollte man in der Politik tunlichst vermeiden.“ Tja.
Seit 2019 hat sich der Umgangston im Nationalrat jedenfalls merklich verschärft – aus hitzigen Diskussionen werden eher Duelle, die manchmal an ein Volksfest mit zu viel Bier erinnern. Klar, eine Debatte darf leidenschaftlich sein, aber wenn der Respekt auf der Strecke bleibt, fragt man sich: Wo ist der Anstand geblieben, den wir von unseren Volksvertreter:innen erwarten?
Ein charmantes Beispiel liefert uns Kanada: Dort werden Debatten zwar ebenfalls lebhaft geführt, aber stets mit einem Grundton an Höflichkeit. Kein „Oida, geht’s noch“, sondern eher ein elegantes „Mit Verlaub, ich sehe das anders.“ Das wirkt nicht nur professioneller, sondern erleichtert auch Kompromisse. Ein bisschen kanadisches Flair im österreichischen Nationalrat – warum eigentlich nicht?
Angesichts des zahlenmäßigen Ungleichgewichts der Geschlechter im österreichischen Parlament könnte man hier eine tiefere Analyse anstellen – oder es bei der Feststellung belassen, dass auch in dieser Hinsicht offenbar noch Raum für mehr Gleichgewicht besteht. Allerdings von den Zahlen her nach unten.
Für mich darf das politische Theater gerne so unterhaltsam bleiben. Doch vielleicht sollten wir uns zwischendurch daran erinnern, dass Politik nicht nur Bühne, sondern auch Verantwortung bedeutet. Am Ende geht es darum, dass Politik kein Spektakel für die Galerie, sondern Arbeit für uns alle ist. Und vielleicht – ganz vielleicht – könnten wir wieder ein Parlament haben, das nicht nur Popcorn-tauglich ist, sondern auch zum Nachdenken inspiriert, oder zumindest für uns arbeitet – spürbar wäre schön. Ein Ort, an dem man stolz sagen kann: „Das ist Demokratie – lebhaft, aber respektvoll.“