Religionszugehörige Zeichen des Zwangs
Was als religiös motiviert gilt, genießt häufig gesellschaftliche, politische und gesetzliche Sonderbehandlung. Doch nicht alles, was aus dem Glauben heraus entsteht, ist freiwillig.
Die Glaubens-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit gilt als in der liberalen Demokratie unantastbares Grundrecht. Sie wird auch gerne, aber falsch synonym als Religionsfreiheit bezeichnet, was der Religion im Spektrum der Überzeugungen schon alleine sprachlich eine Ausnahmestellung verschafft. Dieser Umstand wird von Religionsgesellschaften gern als Atout ausgespielt. Wer sich auf die Religionsfreiheit beruft, darf mit Rücksicht rechnen – und nicht selten mit Ausnahmen. Dabei wird gern vergessen, dass sich hinter religiösen Traditionen, Symbolen und Markierungen oft nicht der Ausdruck eines Bekenntnisses verbirgt, sondern das genaue Gegenteil: Zwang.
Die Kopftuchdebatte ist ein Beispiel für diese Ambivalenz. Sie wird alle paar Jahre mit großem Aufwand geführt, weil es sich um eine Problemstellung handelt, die zwar nicht komplex ist, aber durch äußere Beobachtung alleine nicht mit Sicherheit abschließend geklärt werden kann. Frauen tragen Kopftücher aus modischen Gründen, religiöser Überzeugung und aus Zwang. Der liberale Reflex besteht darin, Selbstbestimmung zu achten und eine Entscheidung zur Verhüllung von erwachsenen Menschen auch einzufordern. Wer sich verschleiern will, soll das tun dürfen. Ein pauschales Verbot widerspräche diesem Grundsatz. Aber nicht alle Menschen sind in der Lage, diese Entscheidung selbstständig zu treffen und dann auch auszuführen.
Was bedeutet Eigenbestimmung für Minderjährige? Mädchen tragen Kopftücher in der Regel, weil es von ihnen erwartet wird. Eltern, Familienverbände oder das soziale Umfeld entscheiden – nicht das Kind. Die individuelle Motivation wird unterstellt, nicht hinterfragt. Die Schule, der Staat, das Rechtssystem reagieren oft mit höflicher Zurückhaltung, auch wenn der Druck auf die Einzelne sichtbar ist und es damit kein religiöses Symbol, sondern ein Zeichen des Zwangs ist.
Während bei der Mädchenverschleierung eine juristische Lösung, die den Zwang auflöst, aber die Selbstbestimmung berücksichtigt lässt, nur erschwert möglich ist – selbst wenn das Erreichen der Religionsmündigkeit mit 14 berücksichtigt wird – ist der Fall bei der rituellen Beschneidung sehr einfach: Sie ist ohne medizinische Indikation verboten und wird deswegen auch weniger euphemistisch Genitalverstümmelung genannt. Mit chirurgischer Endgültigkeit wird ein irreversibler Eingriff vorgenommen – ohne Einwilligung des Betroffenen, oft sogar ohne dessen Wissen. Hier kann die Religionsfreiheit keine Ausnahme schaffen. Es ist ein Eingriff in die körperliche Integrität, der nicht medizinisch, sondern mit dem Glauben an Übernatürliches begründet wird. Auch das ist ein religiöses Zeichen des Zwangs – sichtbar, dauerhaft und im Widerspruch zu geltendem Recht mit staatlicher Duldung. Aus gutem Grund sind Tätowierungen und Schönheitschirurgie vor dem 17. Lebensjahr auch mit einer etwaigen Zustimmung der Eltern verboten.
Das dritte Beispiel wird im noch knapp mehrheitlich christlichen Österreich auch alle paar Jahre diskutiert: das Kreuz im Klassenzimmer. In Schulen, aber auch Kindergärten und Kinderbetreuungsstätten ist es gesetzlich verpflichtend an der Wand anzubringen. Der Staat ordnet ein religiöses Symbol als standardmäßige Hintergrundausstattung öffentlicher Einrichtungen an. Auch dieses Zeichen ist kein freiwillig ausgewähltes. Die Kritik richtet sich folgerichtig auch nur gegen diesen Zwang.
Diese drei Beispiele – Kopftuch, Beschneidung, Kreuz – unterscheiden sich in Form, Tragweite und Wirkung. Doch sie haben eines gemeinsam: Sie zeigen, wie schwer es grundsätzlich säkularen und aufgeklärten Gesellschaften fällt, zwischen Religion als persönlicher Überzeugung und Religion als kollektiver Disziplinierungsform zu unterscheiden.
Ein Staat, der sich weltanschaulich neutral versteht, darf religiöse Zeichen nicht privilegieren – weder durch aktives Anordnen noch durch passives Wegsehen. Es ist nicht Aufgabe der Republik, religiöse Erziehungsziele zu sichern oder konfessionelle Normen über das Recht auf Selbstbestimmung zu stellen.
Wer Religion schützen will, sollte mit dem Schutz der Freiheit beginnen. Und das bedeutet, selbst darüber zu entscheiden, sich religiös zu markieren oder eben nicht. Wenn die Person für eine solche Entscheidung noch nicht alt genug ist, muss diese eben aufgeschoben werden.
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.