Rote Karte für Katar
Fußball ist etwas Besonderes. Kein anderer Sport bringt so viele verschiedene Menschen zusammen. Kein anderer Sport emotionalisiert so sehr. Kein anderer Sport ist so geprägt von Aufstiegsgeschichten. Egal ob Maradona, aufgewachsen in einer Vorstadt von Buenos Aires als Teil einer sozial benachteiligten Gruppe, die abfällig als „Cabecitas negras“ bezeichnet wurde, Ronaldo, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen auf Madeira, oder Messi, der unter hormonell bedingten Wachstumsstörungen litt – sie alle überwanden unzählige Hürden, um Weltstars zu werden.
Diese Geschichten geben Hoffnung. Die Hoffnung, dass im Fußball nicht der soziale Hintergrund oder die Herkunft zählt, sondern das, was man kann. Diese Hoffnung vereint. Unabhängig von Herkunft, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Sexualität und Religion bringt Fußball seit jeher Menschen aus der ganzen Welt zusammen.
In meiner Kindheit habe ich FIFA-Stickeralben gefüllt (zwei wurden sogar vollständig), mit meinen Cousins WM geschaut und mich gewundert, wie sehr man sich über diesen Sport aufregen und freuen kann. In meiner – noch andauernden – Jugend habe ich bei Public Viewings gefeiert, gewettet und manchmal auch geschmust. Weltmeisterschaften waren immer ein Anlass, zusammenzukommen und zusammen zu feiern.
Doch die Fußball-WM in Katar wirft ihre dunklen Schatten voraus. Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Korruption beim Vergabeverfahren und unzählige tote Gastarbeiter lassen den Wüstenstaat Katar und den Fußballverband FIFA in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Die anfängliche Hoffnung, dass eine Weltmeisterschaft Katar den westlichen Werten und den Menschenrechten näherbringen würde, muss als gescheitert anerkannt werden.
Symbolbild, produziert mit DALL-E 2
Ein Mittelfinger gegen westliche Werte
Wenn sich der offizielle katarische WM-Botschafter in ein ZDF-Studio stellt und Homosexualität als geistigen Schaden bezeichnet, ist das kein Ausrutscher, sondern eine aktive Provokation, ein sprichwörtlicher Mittelfinger gegen unsere Werte. Aber Katar kann sich das offensichtlich leisten. Denn das Gegenteil der anfänglichen Hoffnungen ist eingetreten: Katar nähert sich nicht den Menschenrechten, vielmehr beugt sich der Westen den Anschauungen Katars und lässt seine Werte vor der Grenze des WM-Landes zurück.
Bildlich zeigt das die Einreise der deutschen Fußballnationalmannschaft. In Deutschland posiert man noch stolz vor dem Flieger des Deutschen Fußball-Bunds. Dieser trägt groß die Aufschrift „Diversity wins“, daneben steht „Fanhansa“, und darunter findet sich eine Zeichnung von elf Menschen verschiedenster Herkunft, als Symbol der Vielfalt. Mit diesem Flieger will die Deutsche Fußballmannschaft samt Entourage nach Katar einreisen – würde man meinen.
Ah nein, falsch gedacht. Die Deutsche „Diversity Wins“-Fanhansa landet im Oman, wo die Spieler dann umsteigen und ohne große Symbole nach Katar weiterreisen. So weit kommt man also mit seinen Werten – bis in den Oman. Für die Einreise ins WM-Land hängt man die Werte dann aber doch an den Haken, um in der Expect Amazing PR-Show von Katar mitzuspielen.
Die WM basiert auf Ausbeutung
Um in Fußballstadien zu spielen, die unter menschenfeindlichsten Bedingungen errichtet wurden. Moderne Sklaverei hat in Katar System. Während die rund 400.000 Staatsbürger fürstlich auf Kosten der Ölexporte leben, werden Gastarbeiter systematisch ausgebeutet. Eine von Amnesty International durchgeführte Befragung von über 1.000 Arbeitern hat bereits 2013 ergeben, dass ganze 90 Prozent ihre Reisepässe abgeben mussten. Die Arbeiter sind dem Staat schutzlos ausgeliefert – und das nutzt man aus. Löhne wurden verringert oder gar nicht ausgezahlt, die Arbeiter mussten auch bei Höchsttemperaturen arbeiten, man spart bei Sicherheitsmaßnahmen und Verpflegung.
Die Konsequenz dieser Arbeitsbedingungen sind unzählige Tote beim Bau, genaue Zahlen gibt es mangels Nachvollziehbarkeit nicht, aber die Schätzungen bemessen sich mindestens auf mehrere Hunderte Bauarbeiter. Als Reaktion auf die Kritik hat Katar neue Rechte für Arbeiter erlassen, sodass es nun einen Mindestlohn, Hitzefrei-Regelungen und eine Garantie für Ausreisefreiheit gibt – zumindest auf dem Papier. Denn eine unabhängige Justiz gibt es in Katar nicht. Rechte ohne effektive Durchsetzungsmöglichkeiten gegen den Staat sind aber nichts mehr als (leere) Versprechen.
Um mitten in der Klimakrise in klimatisierten Fußballstadien zu spielen, bei einer Weltmeisterschaft, die nach unabhängigen Schätzungen einen CO2-Ausstoß von mehr als 3,6 Millionen Tonnen verursacht – kompensierende Maßnahmen bereits eingerechnet. Wissenschaftler der Universität Lancester kommen aber auf einen dreimal so hohen Wert, und die Vereinigung Carbon Market Watch schätzt, dass der Fußabdruck der neu gebauten Stadien bis zu achtmal höher sein könnte als von der FIFA angenommen.
Ein Weltbild, das auch Zuseher abschreckt
Um in einem Land ein sportliches Miteinander zu zelebrieren, in dem Frauen besseres Eigentum sind und sich Männern bedingungslos unterzuordnen haben. Erst letzten Sommer war in Europa das Entsetzen groß, als Paola Schietekat Sedas zu sieben Jahren Haft und 100 Peitschenhieben verurteilt wurde. Die Mexikanerin arbeitete in Katar für die Weltmeisterschaft und zeigte einen Mann wegen sexuellen Missbrauchs an. Bestraft wurde in Katar aber nicht der Mann, sondern die Frau: wegen des Delikts des außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Diese Regelung hat Katar für die WM, aber auch nur für die Dauer dieser, ausgesetzt. Nachhaltige Veränderung in Katar? Fehlanzeige.
Um die PR-Show eines Landes zu fördern, das die Hamas und vermutlich auch die Taliban fördert. Für Spiele, bei denen Israel-Flaggen ausdrücklich nicht im Fernsehen übertragen werden dürfen. Sport ist politisch, und Katar weiß diese WM zu nutzen. Dass der Westen mitspielt, ist unverständlich.
Kein Wunder, dass der Großteil der Österreicher diese Wüstenspiele nicht unterstützen will. Dies ergibt sich aus einer Umfrage vom Institut für Demoskopie und Datenanalyse mit einem Sample von 1.000 Teilnehmern. Ganze 70 Prozent geben an, dass sie diese WM nicht verfolgen werden, 6 Prozent sind sich unsicher, und nur die restlichen 24 Prozent geben an, dass sie Spiele schauen werden. Statt WM-Begeisterung herrscht nüchterne Gleichgültigkeit.
Für einen Boykott dieser WM
Trotzdem zahlen die europäischen Medien Unsummen für die Spiellizenz, allein ARD und ZDF 214 Millionen Euro. Vom ORF, der sich die Lizenzen zusammen mit Servus TV gekauft hat, wurden keine konkreten Zahlen veröffentlicht. Im Vergleich zu vergangenen Weltmeisterschaften darf man aber vermuten, dass es sich um 12 bis 13 Millionen Euro handelt. Du zahlst GIS? Gratuliere, dann finanzierst du diese WM.
Und ja, die Fehlentscheidung, Katar den Zuschlag für die WM zu geben, wurde bereits 2010 getroffen – aber das ist kein Grund, diese Fehlentscheidung heute einfach hinzunehmen.
Bestehende Missstände müssen angesprochen werden. Die Öffentlich-Rechtlichen sind in der Pflicht, umso intensiver auf die gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Missstände aufmerksam zu machen. Aber nur Aufmerksam machen reicht nicht. Das einzig echte Zeichen ist ein Boykott dieser WM. Daran führt kein Weg vorbei, denn nur niedrigere Einschaltquoten und Einnahmen können die FIFA zu einem Umdenken bewegen. Dass diese moralische Entscheidung auf die Zuseher abgewälzt wird, liegt einzig am Versagen der FIFA und der westlichen Wertegemeinschaft. Katar macht keine Kompromisse – wieso macht der Westen so viele?