Schluss mit dem Klima-Shaming
Man muss nicht zu 100 Prozent klimaneutral leben, um mehr Klimaschutz zu wollen – vor allem, weil die wenigsten sich einen einwandfreien Lebensstil leisten können. Es wäre schleunigst an der Zeit, das zu ändern.
Vor einigen Jahren, als ich noch PR-Berater war, bekam ich ein Mail vom Chef eines börsennotierten Konzerns. Es war ein Kunde, der sich immer wieder mit dem Thema Klimaschutz auseinandersetzen musste und dessen Social-Media-Auftritt unter anderem von mir betreut wurde. Im Mail: ein Link zu einem Artikel, demzufolge Gretas damalige Bootsfahrt über den Atlantik gar nicht „klimaneutral“ sei.
Ich dachte mir nur: Und jetzt?
Die „Eigenverantwortung“ beim Klimaschutz
Dieses Scheinargument kommt jedem unter, der sich an klimapolitischen Diskussionen beteiligt. „Ha, du bist selbst überhaupt nicht klimaneutral? Erwischt! Jetzt darfst du gar keinen Klimaschutz mehr fordern, weil da müsstest du ja bei dir selbst anfangen!“
Zuerst mal würde ich generell bestreiten, dass man bei sich selbst anfangen muss. Solange die hundert größten Konzerne der Welt einen Großteil des CO2-Ausstoßes verursachen, halte ich es nicht für die höchste Priorität, was ich mit meinem bescheidenen Konsum anfange. Das heißt nicht, dass er wurscht ist – mein Stromanbieter wirbt mit 100 Prozent Ökostrom, ich zahle gerne mehr für das „gute“ Fleisch und versuche mich auch an Ersatzprodukten. Aber ich alleine werde die Welt eher nicht retten, so viel ist sicher.
Überhaupt geht die Ansicht, man solle beim Klimaschutz nur auf sich selbst schauen, auf das Bemühen von Ölkonzernen zurück. Der „CO2-Fußabdruck“, den wir heute freiwillig auf vielen Websites berechnen können, ist eine Erfindung von BP, um die Verantwortung auf den Einzelnen zu schieben. Und nicht etwa auf Konzerne, die im wahrsten Sinne des Wortes davon leben, den Planeten zu erhitzen.
Klimaneutral, aber wie?
Aber nehmen wir mal an, es wäre wirklich so einfach. „Be the change you want to see in the world“ und so. Wie genau soll das aussehen?
Ein:e durchschnittlich:e Österreicher:in wohnt nicht in Wien, sondern in kleineren Städten oder Gemeinden. In den meisten davon gibt es keine dauerhaft verfügbaren, leistbaren öffentlichen Verkehrsmittel, die CO2-neutral betrieben werden – man ist auf das Auto angewiesen. Pendeln, Fleisch essen und Mischstrom beziehen – das ist die Lebensrealität der Durchschnittsbürger:innen. Und wie schwer es sein kann, bei allem Idealismus darauf zu bestehen, weiß jeder, der einmal von Freunden auf eine Feier im Dorf eingeladen wurde. Wie, da fährt kein Bus hin? Wie, auf der Karte gibt’s nichts Vegetarisches?
Wenn es wirklich so leicht wäre, komplett klimaneutral zu leben, dann wäre der Vorwurf der Scheinheiligkeit schon realistischer. Momentan aber sind viele von uns strukturell abhängig von einem Lebensstil, der nicht nachhaltig ist. Das heißt nicht, dass wir nicht vieles besser machen können – auf „Fast Fashion“ verzichten, mit dem Zug statt mit dem Flugzeug nach Rom, Fleisch zumindest reduzieren, all das steht uns offen. Aber so ganz perfekt leben, das ist eine Herausforderung.
Klimaschutz ist im allgemein Interesse
Die gute Nachricht ist: Das muss auch nicht sein. Denn völlig unabhängig davon, wie unsere persönliche Lebenssituation ist, haben wir alle ein Interesse daran, dass der Planet weiterhin bewohnbar bleibt – und zwar für möglichst viele.
Jetzt könnte uns wurscht sein, wenn es „nur 1 bis 2 Grad wärmer wird“. Ist doch schön im Sommer, oder nicht? Falsch – Österreich ist von der Erhitzung im Schnitt deutlich stärker betroffen als der Rest des Planeten, Prognosen sprechen von 5 Grad mehr. Das bedeutet ausgetrocknete Seen, Verlust der Artenvielfalt und Sterben der Skigebiete. Und das wissen wir schon lange: Der WWF warnte schon 1999 davor, dass der menschengemachte Klimawandel auch den Tourismus in Österreich gefährden könnte.
Das sind Folgen, die niemand will. Auch nicht die, die gerade in Gemeinden leben, in denen sie ohne Auto nicht auskommen. Auch sie können, dürfen und sollen von der Politik verlangen, im Klimaschutz endlich zu liefern – vor allem im Westen, wo noch immer kein einziges Windrad steht.
Diskutieren wir ohne Shaming
Vielleicht sollten wir uns stattdessen die Frage stellen, wieso wir dieses Klima-Shaming immer nur von denen hören, die ein Interesse am Status quo haben. Früher hätte man an dieser Stelle einfach den Klimawandel an sich geleugnet. Da das angesichts von Hitzerekorden und Naturkatastrophen jedes Jahr schwieriger wird, verzögert man ihn lieber.
Wer selbst nicht einwandfrei unterwegs ist und sich ab und zu auch Kritik anhören muss, will die Debatte möglichst oberflächlich halten und schnell beenden. Der Verweis auf den eigenen CO2-Verbrauch ist eine einfache Taktik, aber inhaltlich nur ein etwas ausformulierteres „Ätschibätsch“.
Klimaschutz gut zu finden, erfordert nicht, 100 Prozent klimaneutral zu leben – vor allem nicht, wenn das noch gar nicht möglich ist. Jeder Mensch profitiert von einem lebenswerten Planeten und hat das Recht, Veränderung einzufordern. Es wäre längst Zeit, solche Scheinargumente hinter uns zu lassen.