Singen für den säkularen Staat

Bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft kann es für Religionsfreiheit keine Ausnahmen geben.
Die Hierarchisierung der Geschlechter würde als Hinweis für die Unvereinbarkeit praktisch jeder Religion mit demokratischen Grundwerten schon reichen, aber man muss nicht lange nach anderen Belegen suchen: Die heiligen Bücher sind gesegnet mit Aussagen über und Anweisungen für das Zusammenleben, die mit einer offenen Gesellschaft in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts nicht zusammenpassen. Die Zehn Gebote, die als moralischer Leitfaden in Juden- und Christentum Verbindlichkeit haben, werden gerne auch über die Religion hinaus als sinnvolles Regelwerk gesehen. Das liegt daran, dass sie kaum jemand tatsächlich kennt oder sich auf einzelne wie „Du sollst nicht töten“ bezieht. Aber nur der vollständige Blick auf den Inhalt gilt. Neben dem egotistischen Selbstbezug eines narzisstischen Gottes der ersten drei, wird im zehnten Gebot Sklaverei nonchalant normalisiert: „Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“ (Exodus 20:17) Im Islam sieht es freilich nicht besser aus: „Für diejenigen nun, die ungläubig sind, werden Gewänder aus Feuer zugeschnitten; über ihre Köpfe wird heißes Wasser gegossen.“ (Koran 22:19)
Das sind keine bedauerlichen literarischen Einzelfälle. Koran, Bibel und all die anderen heiligen Bücher sind im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitische Nützlichkeit kuratierte Sammlungen erfundener Geschichten, die im Zeitbezug zu interpretieren sind. Aber welche Teile davon heute für Gläubige als moralischer Kompass herangezogen werden, lässt sich weder aus den Schriften selbst herauslesen, noch wird es von den Religionen an ein außenstehendes Publikum erkennbar vermittelt. Es handelt sich um eine unbeglichene Bringschuld der Religionen in einer pluralistischen Gesellschaft. Der/die Anders- oder Nichtgläubige ist hier nicht in der Pflicht, sich dieses Verständnis erarbeiten zu müssen. Ganz im Gegenteil: Ihm/ihr das abzuverlangen, ist eine Anmaßung. Solange den heiligen Büchern keine unmissverständliche Leseanleitung beigefügt wird, gilt das geschriebene Wort. Die weltanschaulich tolerante liberale Demokratie erduldet diese Inkompatibilität mit Religion an vielen Punkten.
Es herrscht Glaubens- und Gewissensfreiheit in diesem Land, und wer sich an Gesetze hält, kann seine Überzeugungen oder sein religiöses Bekenntnis selbstverständlich öffentlich und auch gemeinschaftlich in die Tat umsetzen. Gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften und ihre Anhänger:innen genießen in Österreich außerdem Sonderrechte und Vergünstigungen, die nicht anerkannten und Konfessionsfreien nicht zugänglich sind. Eine verquere Interpretation der Religionsfreiheit macht diesen Differenzialismus möglich.
Hymne ohne Religionsfreiheit
Der kuriose Fall eines angehenden Neo-Österreichers, der bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft die Bundeshymne nicht singen wollte, hat die Frage aufgeworfen, ob Bestimmungen, die für alle gelten sollten, im Namen der Religionsfreiheit auch ausgesetzt werden können. Wie der Sachverhalt genau beschaffen war, ist für die weiteren Ausführungen ebenso irrelevant wie die Frage, ob das Absingen der Hymne für den Erwerb der Staatsbürgerschaft notwendig ist oder nicht. Man kann diskutieren, ob diese Bestimmung sinnvoll ist, oder ob das Nicht-Mitsingen nicht eine vernachlässigbare Missachtung in einem Ritual, das ohnehin von einer Gelöbnisformel geprägt ist, darstellt, die konsequenzlos bleiben muss.
Aber – um des Streits Willen – davon ausgehend, dass dieses „gemeinsame Absingen“ tatsächlich eine gesetzliche Voraussetzung für den Erwerb der Staatsbürgerschaft ist, erhält an dieser Stelle die Motivation des Bewerbers besondere Relevanz. Er ist Zeuge Jehovas, und diese nehmen „nicht aktiv an solchen Zeremonien teil“ da sie „davon überzeugt sind, dass sie nicht mit biblischen Lehren vereinbar sind“. Das ist interessant, weil damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird, dass österreichische Gesetze, die mit biblischen Lehren nicht vereinbar sind, für Jehovas Zeugen nicht gelten. Dieses Verhalten steht im Widerspruch zur Gelöbnisformel, mit der ein Erwerber der Staatsbürgerschaft Gesetze und demokratische Grundwerte akzeptiert.
Während für andere Regelungen, etwa religiöse Kopfbedeckungen in Pass- oder Führerscheinfotos, betäubungsloses Schächten und viele mehr, unter dem Schirm der Religionsfreiheit Ausnahmenprivilegien für gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaften gemacht werden, die für andere diskriminierend sind, aber geduldet werden, kann gerade beim Erwerb der Staatsbürgerschaft keine Ausnahme gemacht werden.
Wenn also Zeugen Jehovas „nicht aktiv an solchen Zeremonien“ teilnehmen wollen und nonverbal kommunizieren, dass sie österreichische Gesetze nur akzeptieren, wenn sie ihren religiösen Bestimmungen untergeordnet sind, dann muss ihnen der Erwerb der Staatsbürgerschaft verwehrt werden. Die Verweigerung des gemeinsamen Absingens stellt im konkreten Fall – und das ist wesentlich – nicht auf die Hymne an sich ab, sondern steht für eine Verweigerung, die Rechtsordnung zu akzeptieren. Genaugenommen hätte der Erwerber nach seinen religiösen Bestimmungen auch die Gelöbnisformel nicht sprechen dürfen, weil auch „Treueschwüre“ von dieser Religion abgelehnt werden. Mit dieser Akzeptanzlücke sind Jehovas Zeugen als Religionsgesellschaft nicht alleine. Nur, wer seine Staatsbürgerschaft mit der Geburt oder als Kind erworben hat, kommt selten bis nie in die Situation, der Republik gegenüber zu deklarieren, ob er sich lieber der Scharia, dem Kirchenrecht oder österreichischen Gesetzen unterwirft. Wenn jemand die staatliche Rechtsordnung ablehnt und trotzdem keine Gesetze übertritt, muss auch das ohne Konsequenzen bleiben. Es gibt in diesem Land vermutlich tausende Menschen, für die Bibel, Koran oder das eigene Gewissen wichtiger sind als jedes Gesetz, und die trotzdem unproblematische Staatsbürger:innen sind. Anders ist das beim Erwerb der Staatsbürgerschaft im Erwachsenenalter.
Zirkelschlüssigkeit
Manche argumentierten in der Debatte damit, dass Jehovas Zeugen eine anerkannte Religionsgemeinschaft sind, außerdem Religionsfreiheit gilt und daher eine Ausnahme schon implizit Gültigkeit hätte. Das Argument ist einerseits schlüssig, weil im Anerkennungsverfahren diese Besonderheit der Zeugen Jehovas bekannt war und schon berücksichtigt hätte werden müssen, andererseits handelt es sich um einen Zirkelschluss: Wenn es Teil der Religionsfreiheit anerkannter Religionsgesellschaften und ihrer Anhänger:innen ist, dass sie staatliche Gesetze nur so weit anerkennen, wie es ihnen passt, dann wird damit eine Generalausnahme geschaffen, mit der auf einmal alles möglich ist.
Naturgemäß war es ein Fehler, Jehovas Zeugen als Religion anzuerkennen, aber die Republik hat sich selbst keine Wahl gelassen. Wir leben in einem Staat, der Religionen über eigene Gesetze Sonderrechte zugesteht. Und was der katholischen Kirche mit Konkordat eingeräumt wurde, muss dann auch für den Islam, Jehovas Zeugen und alle anderen gelten. Anstatt sich mit diesen Ausnahmebestimmungen weiter abzumühen, sollte die Republik den Weg in die andere Richtung einschlagen und endlich jede Form der religiösen Bevorzugung abstellen.
NIKO ALM war Herausgeber von Vice, Gründer der Agenturgruppe Super-Fi und zuletzt Geschäftsführer der investigativen Rechercheplattform Addendum. Aktuell ist Alm mit Average unternehmerisch tätig. Von 2013 bis 2017 war er für NEOS Abgeordneter zum Nationalrat mit den Schwerpunkten Medien, Wirtschaft, Weltraum und Kultur. Darüber hinaus engagiert sich Niko Alm in mehreren Initiativen für Laizität. 2019 veröffentlichte er sein erstes Buch „Ohne Bekenntnis – Wie mit Religion Politik gemacht wird“.