Tempo 100: Die falschen Zahlen des Wirtschaftsbundes
Die Debatte über den Klimaschutz wird immer lauter. Nicht nur wegen junger Menschen, die sich auf den Straßen Wiens festkleben, sondern auch, weil die Folgen des Klimawandels Jahr für Jahr schlimmer werden. Der Handlungsbedarf wird immer deutlicher.
Großteils eine gute Entwicklung – so wird über Lösungen und Policy-Vorschläge diskutiert, statt über Symbolpolitik. Neben den offensichtlichen Baustellen wie dem Ausbau von Wind-, Solar- und Wasserkraft wird von vielen auch die Maßnahme Tempo 100 ins Spiel gebracht.
Unabhängig davon, was man von dieser Maßnahme hält, können sich die meisten wohl auf eines einigen: Debatten über Klimapolitik sollten sachlich geführt werden. Für und Wider sollten seriös abgewägt werden, und wenn dann herauskommt, dass eine Maßnahme nicht genug bringt, kann man sie auch verwerfen. Ein aktuelles Beispiel zeigt allerdings, dass das nicht alle so sehen dürften.
Wirtschaftsbund bringt fragwürdige Argumente
Der Wirtschaftsbund – das ist der Teil der ÖVP, der bei Wirtschaftskammer-Wahlen antritt und die WKO-Wahlen in den meisten Bereichen dominiert – positioniert sich auf seiner Website gegen Tempo 100 und titelt mit „Fakten sprechen gegen Tempo 100 auf Österreichs Straßen“.
Hauptargument des Wirtschaftsbundes: Österreich an sich mache nur 0,2 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen aus. Davon stamme nur ein Drittel aus dem Verkehr, und insgesamt würde Tempo 100 nur 3 Prozent einsparen. Das klingt nach wenig, und im weltweiten Konnex ist es das zweifelsohne auch. Die Conclusio: „Bringt eh nichts, können wir gleich lassen.“
Weiters behauptete der Wirtschaftsbund-Sprecher auf Twitter: Die Niederlande hätten Tempo 100 eingeführt, und dort würden immerhin mehr Menschen sterben als in Österreich. Die Todesrate der von ihm gezeigten Statistik war allerdings aus dem Jahr 2016 – und erst 2020 wurde das Tempolimit von 130 km/h auf 100 gesenkt. Diese Erklärung ist also irreführend, steht aber trotzdem weiterhin auf Twitter.
Aktion gegen Klima-Bremser
Der Klimaaktivist und Filmemacher Daniel Bleninger übernimmt jetzt die Logik des Wirtschaftsbundes. Auf Twitter schreibt er, sein WKO-Mitgliedsbeitrag mache nur 0,000061 Prozent des gesamten Umlageaufkommens der Kammer aus. Diese verdient immerhin an mehr als 660.000 Beitragszahlenden im Jahr. Wenn man der Logik aus der Tempo-100-Debatte folge, wäre es also auch egal, ob er diesen Beitrag bezahle oder nicht. Ob die Wirtschaftskammer dieses Argument teilt? Oder geht es dann doch um jeden noch so kleinen Beitrag?
Mit der Aktion zeigt Bleninger, wie irreführend das „Argument“ des Wirtschaftsbundes eigentlich ist. „Wenn wir es alleine nicht schaffen, sollten wir gleich gar nichts tun“ ist ein klassisches Narrativ der „Klima-Bremser“, die den Klimawandel zwar nicht leugnen, aber Maßnahmen gegen ihn trotzdem verlangsamen wollen. Neben dem Verweis auf das Individuum – „Jeder muss was tun, um das Klima zu schützen“ und dem technologischen Optimismus – „Wir werden eine neue Maschine erfinden, die das Problem löst“ – kommt immer wieder auch das Scheinargument, dass keine Maßnahme allein das Klima retten würde.
Zu Ende gedacht führt das aber dazu, dass sich niemand bewegt. Österreich zeigt auf die EU als Ganzes, die EU zeigt auf die USA und China, die zeigen wechselseitig mit dem Finger aufeinander – und am Ende passiert gar nichts. Der österreichische Verkehr ist im weltweiten Kontext genauso unbedeutend wie, sagen wir, Kohlekraft in Polen oder Landwirtschaft in Argentinien. Trotzdem müssen sich all diese Bereiche bewegen, weil Emissionen auf lange Sicht auf 0 müssen.
Wissenschaft für Tempo 100
Auf der anderen Seite steht die Wissenschaft. Und die dürfte mehrheitlich für Tempo 100 sein. Die Kampagne „Tempolimit jetzt“, die von den verkehrswissenschaftlichen Instituten Österreichs ins Leben gerufen wurde, spricht auf ihrer Website mehrere Argumente für eine Reform der Geschwindigkeitsbegrenzung an. Nicht nur die Emissionen würden dadurch sinken – das Hauptargument in der Klimaschutz-Debatte –, sondern es gäbe dadurch auch weniger Unfälle, die noch dazu weniger schlimm ausgehen würden.
Weniger Lärm, weniger Treibstoffverbrauch, geringere Kosten, höhere Lebensqualität. All diese Punkte klingen positiv und werden von den Wissenschaftler:innen auch durch Studien untermauert. Das sind seriöse Argumente, die man in der politischen Debatte dazu berücksichtigen sollte. Das heißt nicht, dass diese Abwägung automatisch zu Tempo 100 führen muss – die Parlament als gewählte Vertretung des Volkes könnte auch einfach entscheiden, dass der emotionale Nutzen, schnell fahren zu dürfen, höher wiegt als diese Argumente. Aber zumindest kann es sich daran im Sinne der evidenzbasierten Politik orientieren, wenn das Team hinter dem offenen Brief z.B. festhält:
„Mit der geforderten Senkung könnten die CO2-Emissionen aus dem Kfz-Verkehr um rund 2,4 Mio. t bzw. 10 % gegenüber dem Referenzjahr 2019 gesenkt werden, bei gleicher Verkehrsleistung würden 0,9 Mio. t bzw. 10 % weniger an fossilem Treibstoff verbraucht, und rund 116 Menschen (28 %) weniger würden im Straßenverkehr getötet und knapp 7.000 (19 %) weniger verletzt werden (FSV, 2022).“
Für eine sachliche Debatte
Ja, Österreich alleine wird das Weltklima nicht retten. Aber hinter diese Ausrede kann sich jeder Staat zurückziehen – und am Ende teilen wir uns den Planeten, der immer heißer wird, wenn wir nichts tun. Der Wirtschaftsbund sollte nicht auf vereinfachte Rechenbeispiele und Verzögerungen setzen, sondern sich auf die sachlichen Argumente beschränken.
In diesem Sinne sei fairerweise darauf hingewiesen: Nicht alles, was der Wirtschaftsbund schreibt, ist irreführend. Dass nur etwa 40 Prozent aller Fahrten mit dem Auto auf Autobahnen stattfinden und Baustellen und Wetterbeschränkungen dafür sorgen, dass auch dort nicht immer 130 km/h möglich sind, kann man z.B. durchaus erwähnen, wenn man über den Nutzen der Maßnahme diskutieren will. Aber eine „Bringt eh nichts“-Rechnung zieht die Seriosität der Argumentation nach unten.
Heißt das, dass wir Tempo 100 unbedingt brauchen, weil alle Argumente dafür sprechen? Nicht zwangsläufig. Aber wir sollten uns um eine sachliche Debatte bemühen. Und die Wissenschaft hat da zumindest seriösere Beiträge als der Wirtschaftsbund.