Unser Pensionssystem ist ein Boomer!
Ein frustrierter Schrei erreicht den Bildschirm vor mir. Das Gefühl der Verzweiflung musste sich einen Weg aus meinem Körper bahnen. Mein Vater öffnet vorsichtig die Tür zu meinem ehemaligen Kinderzimmer. „Alles okay?“, fragt er. Ich nicke und gebe ihm fuchtelnd zu verstehen, dass ich mich hier gerade konzentrieren muss. Er schließt die Tür wieder. Ich schaue mir die politische Diskussion rund um das Thema Pensionen in Österreich weiter an. Ich drücke den Button mit dem nach links zeigenden Pfeil auf YouTube. Ich muss das noch einmal hören, um sicherzugehen, dass meine aufkeimende Wut berechtigt ist. Einer der Studiogäste fragt tatsächlich: „Aber was ist mit den Bauarbeitern?“ Und bedient allein mit dieser Frage ein ewiggestriges Narrativ der militanten Ruhestand-Ultras.
Ich sitze – ratlos den Kopf auf meine Hände gestützt – in meinem ehemaligen Kinderzimmer, das mir als Büro dient, wenn ich in meiner Heimat im Homeoffice bin. Wie soll ich mit dieser Emotion einen konstruktiven Blogbeitrag schreiben? Von diesem Kinderzimmer aus bin ich vor über 20 Jahren jeden Samstag zum New Yorker aufgebrochen, um – neben der Schule – ein bisschen Geld zu verdienen. Bitte das jetzt nicht falsch zu verstehen. Wir hatten keine Geldsorgen, nur eben auch nicht besonders viel davon. Dass ich jetzt, im Alter von 36 Jahren, bereits 20 Jahre gearbeitet habe und meine Pension mehr als unsicher ist, scheint die Entscheidungsträger:innen wenig zu jucken. Das verwundert aber auch nicht. Meine Wählerstimme ist weniger wert als die meiner älteren Mitbürger:innen. Denn die sind in der Überzahl.
Zur Diskussionsrunde. Da erzählt ein Abgeordneter von NEOS, dass es eine Idee gibt, die ein – für Österreich – völlig neues Pensionsmodell darstellt und das bestehende System ergänzt: Man nutzt auch den Kapitalmarkt, damit das derzeitige Umlagesystem entlastet wird. Schweden hat beispielsweise ein Mischsystem mit einer umlagefinanzierten Grundsicherung – wie bei uns – und zusätzlich einer kapitalgedeckten, beitragsdefinierten Zusatzrente. Arbeitnehmer:innen investieren in private Fonds, die sie aus einer breiten Palette auswählen können. Ein staatlicher Default-Fonds existiert für diejenigen, die nicht aktiv wählen wollen. Mit einem solchen Mischsystem wird man die Pension auch für die künftigen österreichische Generationen sichern. Weiters wird erklärt, dass man zusätzlich daran denken sollte, dass jene, die freiwillig (!) über das gesetzliche Pensionsantrittsalter hinaus arbeiten möchten, auch eine höhere Pension erhalten sollen. Der andere Studiogast fragt daraufhin: „Aber was ist mit den Bauarbeitern?“ Mein frustrierter Schrei war mehr als berechtigt, merke ich gerade.
Mein Vater ist Pensionist, das ist auch der Grund, warum er an einem ganz normalen Dienstag um 10 Uhr vormittags die Tür meines ehemaligen Kinderzimmers öffnen konnte. Er ist 63 Jahre alt, und er sucht sich seit seiner Pensionierung vor einem Jahr täglich neue Arbeiten im Haus. Wenn ich ihn dabei beobachte, wie er Dinge, die eigentlich völlig intakt sind, neu denken und verbessern will, macht mich das etwas traurig. Vielen jungen Menschen wird hier gerade der beste „Reparieren statt Kaufen“-Lehrer vorenthalten, den sie kriegen können. Und das nur, weil unser starres und ewiggestriges System den Elektriker zwingt, als Elektriker in Pension zu gehen. Natürlich kann er mit 63 Jahren nicht mehr unter jede schwere Maschine klettern, um mit verrenktem Rücken und unnatürlicher Schulterhaltung diesen bescheuerten Kontakt wieder anzulöten. Aber er könnte jungen Menschen praxisnah beibringen, wie man herausfindet, was das Problem mit der Waschmaschine ist und wie man es löst. Ich bin mir sicher, er würde neu aufblühen, wenn er der nächsten Generation nützliches Wissen mit auf ihren Weg geben dürfte.
Also, was ist jetzt mit den Bauarbeitern? Die Frage kann nur aus einem Grund gestellt worden sein: Unser Pensionssystem ist ein Boomer. Niemand mit der Macht, eine Entscheidung zu treffen, denkt darüber nach, ob der Bauarbeiter eine freiwillige – das Wort wird gerne von Pensions-Demagog:innen übersehen – Verlängerung seiner Erwerbstätigkeit auch als Bauarbeiter machen muss. Nein, wenn unser Land nur ein bisschen zukunftsorientierter wäre, müsste er das nicht.
Ich bin es leid, in einem Land alt zu werden, in dem man das Pensionssystem nicht mal schief ansehen darf, ohne am Watschenbaum zu rütteln. Wo mutige Ideen belächelt werden und die notwendige Reform eines gescheiterten Systems als unverhandelbares Tabu gilt. Wir und die, die nach uns kommen, verdienen es, dass über unsere Zukunft gesprochen wird. Wir verdienen es, dass ernsthafte Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass auch wir eine Chance auf eine sichere Altersvorsorge haben. Wir verdienen mehr als das, was uns jetzt geboten wird.