Wahlrecht 3.0 – Wie viel Mut darf es sein?
Am Sonntag, den 29. September 2024, wählt Österreich einen neuen Nationalrat. Es ist nicht übertrieben, von einer Richtungs-, vielleicht sogar von einer Schicksalswahl zu sprechen. Warum man von einem nicht selbstverständlichen Recht unbedingt Gebrauch machen sollte und wie man Wahlrecht weiterdenken könnte.
Österreich schaut gerne auf seine europäischen Nachbarn. Bei Nationalratssitzungen werden besonders häufig Vergleiche mit Deutschland gezogen; spricht man über demokratische Erosionen und Isolation im Kontext der EU, wird in der Regel auch über Ungarn gesprochen. Wenn es um Neutralität geht, wird besonders gerne auf die Schweiz geblickt. Die Schweiz ist auch mit Blick auf das Wahlrecht ein spannender Vergleich: Gilt das Land doch in vielerlei Hinsicht (zu Recht) als Vorbild, war es beim Wahlrecht (abgesehen vom Fürstentum Liechtenstein) lange Zeit der reaktionärste Staat Europas. Erst 1971 wurde, selbstverständlich per Volksabstimmung, das Frauenwahlrecht eingeführt. Zum Vergleich: Österreich hat diesen wichtigen Schritt bereits 1918, elf Jahre nach Einführung des Wahlrechts für Männer, gesetzt. Europäisches Schlusslicht ist der Vatikan, wo Frauen bis heute kein Wahlrecht haben, da es nur eine Wahl – die des Papstes – gibt und hierfür nur Kardinäle stimmberechtigt sind.
Auch beim Wahlalter ist man hierzulande äußerst progressiv: Österreicherinnen und Österreicher dürfen seit 2007 bereits mit 16 Jahren bei Nationalratswahlen ihre Stimmen abgeben. Artikel 26 Bundes-Verfassungsgesetz legt noch weitere Kriterien für die Wahlen am Sonntag fest:
Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.
Mit diesem Paragraphen ist Österreich also ohne Zweifel fortschrittlicher als seine europäischen Nachbarn und auch global einer der wenigen Staaten, die das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt haben. Man könnte aber noch weiter gehen.
Mehr Wahlrecht wagen
Das Ausländer:innenwahlrecht wird selten und besonders von konservativen Parteien äußerst ungern diskutiert. Gleichwohl wäre es, nach Einführung des Wahlrechts und Frauenwahlrechts, eine dritte, substanzielle Weiterentwicklung. Es gäbe gute Gründe dafür: Knapp 20 Prozent beträgt der Anteil der Nicht-Österreicher:innen. In Wien waren es gar 30 Prozent, die vor fünf Jahren bei der Landtagswahl nicht stimmberechtigt waren. Die meisten Personen dieser Gruppe haben hier nicht nur ihren Hauptwohnsitz, sie sind womöglich schon den Großteil ihres Lebens im Land, arbeiten hier und zahlen Steuern. Es wäre somit gut begründbar, dass man als Steuerzahler:in auch mitbestimmen darf, wer das Geld, das man an den Staat abführt, verwendet.
Freilich sollte man nicht über ein pauschales Ausländer:innenwahlrecht diskutieren – das wäre viel zu breit gefasst. Denkbar wäre hingegen, allen Menschen, die seit fünf oder mehr Jahren Wohnsitz und Arbeitsplatz in Österreich haben und eine EU-Staatsbürgerschaft besitzen, ein solches Wahlrecht zuzugestehen. Dazu bräuchte es einerseits den politischen Willen und andererseits eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Beides ist gleichermaßen unrealistisch. Weder ÖVP noch FPÖ werden sich mittel- bis langfristig dazu durchringen, dieses Thema auf die Agenda zu setzen. Erschwerend kommen Österreichs hohe Hürden für die Staatsbürgerschaft und die restriktive Haltung zur Doppelstaatsbürgerschaft hinzu.
Denkt man die EU weiter zu den Vereinigten Staaten von Europa, wäre die Idee eines Wahlrechts für Unionsbürgerinnen und -bürger aber gar nicht mehr so abwegig, sondern vielmehr ein logischer Zwischenschritt.
Auch wenn sich in den kommen Jahren keine Wahlrechtsreform abzeichnen wird, ist es eine proeuropäische Idee, die nichts an Aktualität verlieren wird. Bis dahin gilt nur ein Grundsatz: dass von dem erkämpften Recht, das eine gleiche, unmittelbare, persönliche, freie und geheime Wahl zweifelsohne ist, alle Österreicherinnen und Österreicher Gebrauch machen. Nur so kann gelebte Demokratie gesund bleiben.