Warum Wien mit #Autoliebe werben sollte
Es ist Sommer 2021. Nach fünf Jahren in den Niederlanden sind die Umzugskisten gepackt, es geht zurück nach Wien. Als erste Amtshandlung hole ich mein altes Fahrrad aus dem Keller meiner Eltern und bringe es zum Service.
In den Niederlanden war ich nämlich täglich radelnd unterwegs. Das ist im günstigen und gut ausgebauten Öffi-Netz von Wien zwar nicht lebensnotwendig, aber hin und wieder einfach die bessere Option: Mobilität kombiniert mit Bewegung, kein Gedränge in der Bim – und auch mit den Öffis schwer erreichbare Orte sind in Reichweite, wie zum Beispiel ein Sportplatz mitten im grünen Prater.
In dieser Anfangszeit fällt mir etwas auf, was ich früher nie bemerkt habe: Wien ist nicht nur Öffi-, sondern auch Autostadt. Zwar ist das Radwegenetz besser ausgebaut als 2010, als ich das erste Mal zu Mobilitätszwecken durch die Stadt radelte, im Vergleich zu den Niederlanden wird aber augenscheinlich, welches Verkehrsmittel in Wien Priorität hat. Mehrspurige Verkehrsadern führen vom Zentrum an die Stadtränder und sind oft der direkteste Weg zum Ziel. Nur selten verfügen sie auch über einen Radweg. Auf dem Rad bleibt die Wahl zwischen Nahtoderfahrungen im Autoverkehr oder einem verschnörkelten, meist nur aufgepinselten Radweg in einer Seitengasse – wenn man Pech hat, sogar gegen die Einbahn.
Fremdschämen für die Wiener Autozentriertheit
Verkehrsmarkierungen, Ampelschaltungen, Parkplatzarrangements – fast alles ist in Wien auf das Auto ausgelegt. Mein niederländischer Freund, der mit mir nach Wien gekommen ist, wundert sich regelmäßig über die österreichische Liebe zum Auto. Wenn er sieht, wie oft es an dichtbefahrenen Straßen Parkplätze, aber keinen Radweg gibt, schüttelt er nur den Kopf. Und wann immer wir in einem Bus sitzen, der sich mühsam zwischen schrägparkenden Kleinlieferwagen und dem entgegenkommenden Verkehr vorbeizwängt, schäme ich mich ein kleines bisschen. Wien steht für #öffiliebe und #radliebe – aber sollte die Stadt nicht eigentlich mit #autoliebe werben?
Denn, seien wir ehrlich: In Wien gehört der öffentliche Raum in überwiegendem Maße dem Auto, und das nicht erst seit der Kontroverse um die Stadtstraße. Zwei Drittel der Verkehrsflächen sind Fahrbahnen und Parkplätze, 31 Prozent Gehsteige – auf Radwege und Fußgängerzonen entfällt jeweils nur ein Prozent. Dabei wurde 2019 nur ein Viertel aller Wege mit dem Auto zurückgelegt, bis 2025 hat sich die Stadt sogar das Ziel gesetzt, diesen Anteil auf 20 Prozent zu reduzieren. Warum also verwenden wir so viel Platz auf den motorisierten Individualverkehr?
An diesem Punkt sei angemerkt, dass öffentliche Verkehrsmittel natürlich auch Fahrbahnen und Parkplätze brauchen – allerdings in viel geringerem Ausmaß. Selbst mehrere Buslinien auf einer Strecke rechtfertigen keine mehrspurigen Straßen: Straßenbahnschienen können begrünt werden, und auch der Bedarf an Parkfläche ist geringer als der benötigte Parkraum für Privatautos.
Wohin mit all den Autos?
Apropos Parken: Studien zufolge stehen Autos im Durchschnitt 95 Prozent der Zeit still. Das heißt, dass im Schnitt 688.845 der Wiener PKWs einen Parkplatz brauchen – viele davon auf öffentlichen Flächen. Die Parkpickerlzonen in Wien umfassen Stand März 473.000 Stellplätze, in einigen Randgebieten darf darüber hinaus noch gratis geparkt werden.
Aber auch die knappe halbe Million Stellplätze, die unter die Parkraumbewirtschaftung fallen, sind günstig zu haben: Für zehn Euro pro Monat darf man das Auto vor der eigenen Haustür abstellen. Das ist viel weniger, als die meisten Leute pro m² für ihren Wohnraum zahlen: In einer Petition machten sich einige Wiener:innen darum stark dafür, die Kosten für Parkplätze nach dem System des Richtwertmietzinses zu regeln. Ein Stellplatz mit 6 m² Fläche würde in diesem Fall Stand Juni 2023 ca. 40 Euro kosten, das Vierfache des jetzigen Preises.
Für andere Zwecke als ruhende Familienkutschen darf man den Parkraum übrigens nicht nutzen: Das haben einige Wiener:innen bereits probiert. Sie wollten einen Parkplatz zum üblichen Tarif verwenden, um ein Hochbeet anzulegen. Das ist allerdings verboten – außer ein angemeldetes Auto mit Parkpickerl dient als Aufbewahrungsort. „Na dann wissen wir, was zu tun ist“, dachten sich die Initiator:innen wohl. Ihr Cabriobeet ist zurzeit in der Nußdorfer Straße 76 zu bestaunen.
Zwischen Melkkuh und Nutznießer
Weist man Autofahrer:innen auf ihre privilegierte Position hin, macht man sich keine Freunde. Die Kosten für Anschaffung und Benzin, Kfz-Steuer und Kosten für Reparatur und Unterhalt fallen gerade in Zeiten der Teuerung ins Gewicht und können dazu verleiten zu denken, man habe sich das Privileg des eigenen Autos inklusive Infrastruktur redlich erkauft. Wer sich mit den Zahlen beschäftigt, kommt allerdings schnell zum Schluss, dass Pkw-Individualverkehr einfach ein sündhaft teures und klimaschädliches Mobilitätskonzept ist, zu dem der Staat noch einiges zuschießen muss, um die Kosten tragbar zu halten.
Die Pendlerförderung kostet jährlich 480 Millionen, dazu kommen Kosten für den Bau und Erhalt autobezogener Infrastruktur und die Gesundheits- und Umweltkosten, die Pkws durch Lärm, Abgase, Feinstaub und Verkehrstote verursachen. Eine deutsche Studie bezifferte die jährlichen Kosten der Autonutzung für die Gesellschaft auf 4.674 Euro für einen Kleinwagen, 5.273 Euro für einen SUV. Umgerechnet auf Österreich liegen die gesellschaftlichen Kosten pro Österreicher:in monatlich bei 233 Euro.
Verbrenner oder nicht Verbrenner, das ist hier die Frage
Dem entgegen stehen die Steuern und Abgaben, die von Autofahrer:innen gezahlt werden. Auf Benzin und Diesel entfällt seit jeher die Mineralölsteuer; in den letzten Jahren wurde auch eine CO2-Steuer eingeführt und die Normverbrauchsabgabe bei Neuzulassung ökologisiert – ab einem CO2-Ausstoß von 105 g/kg fällt eine Abgabe an, die proportional zum Ausstoß steigt. Wer einen Benziner oder ein Dieselauto fährt bzw. sich einen neuen Verbrenner zulegen will, muss also etwas tiefer in die Tasche greifen. Die emissionsbezogenen Abgaben sind allerdings ganz bewusst gesetzt, um den CO2-Ausstoß des Individualverkehrs zu senken und die österreichischen Klimaziele zu erreichen – schließlich ist der Verkehr mit 30 Prozent einer der größten Verursacher von Treibhausgasen. Für Autofahrer gibt es inzwischen eine leistbare, vergleichbare Alternative, für die diese Steuern nicht anfallen: Elektroautos.
Wer sich ein E-Auto zulegt, ist von NoVa und motorbezogener Versicherungssteuer ausgenommen, und auch die Mineralölsteuer ist irrelevant. Dazu kommt: Die Anschaffung eines Elektrofahrzeugs zur privaten Nutzung wird von staatlicher Seite gefördert. Gepaart mit den immer kostengünstigeren E-Modellen, die neu und gebraucht erhältlich sind, können sich die meisten Autofahrer:innen inzwischen frei entscheiden, ob sie beim Verbrenner bleiben oder im E-Auto ihre Steuerbegünstigung genießen wollen.
Wer oben aufgepasst hat, sieht allerdings auch hier die Schwierigkeit. Emissionen sind nur ein kleiner Teil der Probleme, mit denen eine autozentrierte Gesellschaft zu kämpfen hat. Auch E-Autos stehen den Großteil des Tages still, verbrauchen mehr Platz auf der Straße als andere Verkehrsmittel und stellen ein Sicherheitsrisiko für andere Verkehrsteilnehmer:innen dar. Die Kosten von Pkw-Infrastruktur, das Ringen um öffentliche Flächen, Verkehrstote, Verkehrslärm, Staus – diese Probleme bleiben bestehen, wenn wir den Autobestand lediglich elektrifizieren, ohne unsere Prioritäten allgemein zu überdenken.
Auf der Tangente muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Eine echte Mobilitätswende, die weniger statt andere Autos propagiert, ist in Wien – anders als z.B. in Paris – nicht in Sicht. Das Auto ist tief in der österreichischen Psyche verwurzelt. Zwar erreicht die Liebe der Österreicher:innen zu ihrem fahrbaren Untersatz keine amerikanischen Ausmaße, die Mentalität schlägt aber in eine ähnliche Kerbe: Die eigenen vier Räder werden mit Freiheit assoziiert. Man bestimmt selbst, wann, wohin und mit wem man fährt – kein unfreiwilliges Kuscheln in der Bim, kein Warten auf den Bus, kein Frieren auf dem Rad. Unser Auto ist eine Bequemlichkeit, die wir uns nicht gerne nehmen lassen wollen.
Ein neues Mobilitätsverständnis geht zwar mit einer Umstellung einher, muss aber nicht den Verlust der Bequemlichkeit bedeuten. Wien hat einige Carsharing-Anbieter, die unkompliziert und günstig sind und ein flächendeckendes Angebot zur Verfügung stellen. Sharing-Autos eignen sich hervorragend, wenn man sich über Willhaben einen Beistelltisch organisieren will oder Freunde am Stadtrand besucht. Und das Beste daran: Sobald man das Auto abgestellt hat, ist es nicht mehr das eigene Problem.
Mehr auf Sharing-Autos und andere Formen der Mobilität zu setzen und weniger auf die eigenen vier Räder, hätte enorme Vorteile: Weniger Parkplätze und Fahrspuren schaffen mehr Platz für Begrünung, Schanigärten und andere Formen von Mobilität. Das wertet nicht nur das Stadtbild auf und verhilft Geschäften auf vormaligen Durchfahrtsstraßen zu mehr Kund:innen – sondern lindert auch die ärgsten Auswirkungen der stets heißeren Sommer.
Und auch persönliche Vorteile gibt es zuhauf: Wer sich vom Pkw verabschiedet, macht mehr Bewegung und spart monatlich rund 1.000 Euro. Das deckt nicht nur die Öffi-Jahreskarte für die ganze Familie, sondern auch einige Fahrten mit einem Sharing-Auto ab.
Win-win statt Nullsummenspiel
Viel zu oft wird die Mobilitätswende zum Kulturkampf zwischen Autofahrer:innen und anderen Verkehrsteilnehmer:innen (meist Radfahrer:innen) stilisiert. Neuerungen werden als „Nullsummenspiel“ gesehen – verbessert sich die Situation für Radfahrer:innen, muss sie sich gleichzeitig für Autofahrer:innen verschlechtern.
Dass das nicht der Fall ist, zeigen die Niederlande eindrucksvoll. Der starke Fokus auf Radfahrer:innen geht mit innovativer Verkehrsplanung einher. Smarte Kreuzungen schalten Ampeln auf Rot, sobald keine Verkehrsteilnehmer:innen mehr auf Querung warten und verkürzen so die Wartezeiten für alle. Schlau angelegte, baulich getrennte Radwege („Paint is not infrastructure“) holen die Radfahrer:innen – das größte Ärgernis vieler Autofahrer:innen – weg von der Straße und sorgen dafür, dass Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sich nicht in die Quere kommen. Die Subventionierung anderer Formen des Verkehrs hat außerdem den positiven Effekt, dass sich im Allgemeinen weniger Autos auf den Straßen befinden, wodurch weniger Staus entstehen.
Kurz gesagt: Von einer gerechteren Platzverteilung in der Stadt können alle Verkehrsteilnehmer:innen profitieren. Mehr Bäume, weniger Luftverschmutzung, mehr freie Sicht auf die wunderschönen Straßenzüge der Bundeshauptstadt – wenn das nicht #wienliebe ist, dann weiß ich auch nicht.