Wie der Parlamentarismus durch Vertagungen gekillt wird
Im Parlament dominiert nicht die Diskussion, sondern die Vertagung von Anträgen in nichtöffentlichen Ausschüssen. Das befeuert nicht nur den Stillstand – es geht auch an der Idee vorbei, was ein Parlament leisten soll. Ein Erfahrungsbericht einer Ausschuss-Teilnehmerin.
Das Parlament diskutiert Themen nicht nach Lust und Laune, sondern nach geregelten Abläufen. Will eine Partei eine Idee in größerem Rahmen diskutieren, muss diese Idee in einen Antrag gegossen werden – Anträge, die viele aus den Fernsehübertragungen kennen. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Denn durch Vertagungen werden viele dieser Anträge für die Schublade produziert.
Eine Art von Antrag ist der sogenannte Entschließungsantrag. Mit diesem werden die Regierung bzw. bestimmte Minister:innen dazu aufgefordert, zu einem bestimmten Thema einen Reformvorschlag vorzulegen, der bestimmte Vorstellungen der Antragsteller:innen beinhaltet. Oft werden solche Anträge geschrieben, um auf bestimmte Probleme oder eben überfällige Reformen hinzuweisen. Entschließungsanträge können immer an Plenartagen eingebracht werden – also wenn Sitzungen des Nationalrats stattfinden – und anschließend auf die Tagesordnung eines Ausschusses gesetzt werden.
Die Ausschüsse sind sozusagen die einzelnen „Arbeitsgruppen“ zu verschiedenen Politikbereichen, in denen eine Auswahl von Abgeordneten aller Parteien (mit mehr inhaltlichem Tiefgang als im Plenum) über Gesetze und Anträge diskutiert. Wie im Plenum sind auch in den Ausschüssen die Fraktionen je nach Stärke vertreten, insgesamt haben sie üblicherweise 23 Abgeordnete. Die Diskussion in den Ausschüssen ist nicht öffentlich – auch um dort weniger parteipolitisch diskutieren zu können.
Und dadurch ändert sich einiges. Denn auch, was nicht öffentlich ist, ist ein wichtiger Teil der parlamentarischen Arbeit.
Wie es im Ausschuss wirklich läuft
Damit diese nicht gänzlich hinter geschlossenen Türen stattfindet, gibt es die Parlaments-Website, die die wichtigsten Informationen sammelt. So sind alle Anträge auf der Website gesammelt und einsehbar – bei jedem Antrag steht auch dabei, ob oder wie oft er bereits im Ausschuss behandelt wurde. Auch die Tagesordnungen der einzelnen Ausschüsse sind öffentlich. So sind also nur konkrete Wortmeldungen und deren Inhalt ein Geheimnis, damit es aber zumindest einen groben Einblick gibt, sind im Ausschuss sind immer Mitarbeiter:innen der Parlamentskorrespondenz anwesend.
Ziel der Ausschüsse ist es auszuloten, wie Positionen sich zueinander verhalten. In den Debatten sollten Argumente für und gegen eine Idee abgewägt werden, am Ende der Diskussion wägen alle ab, und es wird abgestimmt. Wurden genug Argumente für eine Idee vorgebracht, oder überwiegen die Gegenargumente? Zur Vorbereitung haben solche Anträge Begründungen – in diesen Texten wird dargelegt, warum ein Antrag eingebracht wird, warum eine Reform nötig ist und wie die Antragsteller:innen auf die Idee der Ausgestaltung gekommen sind. Derartige Entscheidungen für oder gegen Anträge gibt es aber kaum noch, und auch das hat die Parlamentskorrespondenz schon einmal gut zusammengefasst:
„Gesundheitsausschuss vertagt Oppositionsanträge“
Genau so klang es am 7. November 2022. Im Gesundheitsausschuss standen zwei Berichte und ein Regierungsantrag auf der Tagesordnung – alles weitere wurde vertagt. Problematisch ist, dass es sich dabei nicht um eine Besonderheit eines Ausschusses handelt, sondern eben mittlerweile um den Standard – das erklärt den Titel der Korrespondenz. Denn was für Mitarbeiter:innen und Abgeordnete frustrierend ist, ist auch ein schlechtes Zeichen für die Demokratie.
Anträge entstehen üblicherweise nicht einfach aus Lust und Laune von einzelnen Abgeordneten heraus. Manchmal entstehen sie aus Branchenterminen, aus kleinen Aspekten, die übersehen wurden. Aus Ungeduld, weil versprochene Reformen auf sich warten lassen. Als Anreiz, um bestimmte Vorhaben aus dem Regierungsprogramm priorisieren zu lassen. Die Bandbreite ist groß, und je nach Antrag kann hier gute oder schlechte Absicht unterstellt werden. Selbst bei Anträgen, die für die eine oder andere Person aber nach absoluten Lächerlichkeiten klingen, stehen meist Überlegungen dahinter, und wohl selten schlechte Absichten.
Die Abstimmung, ob eine Idee angenommen oder abgelehnt wird, wirkt sich aber nicht nur auf den einzelnen Antrag aus. Wird über einen Antrag abgestimmt, verschwindet er aus dem Ausschuss und wird in der nächsten Plenarsitzung behandelt – und das bedeutet, dass darüber in der öffentlichen Sitzung vor Fernsehkameras diskutiert wird. Wer den Antrag stellt, freut sich, dass er angenommen wurde oder kritisiert, dass er abgelehnt wurde. Die anderen Parteien freuen sich über Zusammenarbeit oder schimpfen, wie schlecht die Idee hinter dem Antrag war.
Wichtig dran ist aber vor allem: Diese Debatte ist öffentlich. Gerade die Regierung muss dann also erklären, warum Reformwünsche abgelehnt werden oder warum man sich auf Ideen anderer Parteien einlässt. Ein Ereignis, das in der Praxis offenbar um jeden Preis verhindert werden muss.
Die vielen Gesichter der Vertagungen
Denn mittlerweile werden kaum noch Anträge abgestimmt. Egal, welcher Ausschuss – Anträge der Oppositionsparteien scheinen fast schon zu einem „Vertagungszwang“ zu führen.
Spannend ist dabei auch das Warum. Denn mit Begründungstexten oder Entschlussformeln kann eben der Hintergrund eines Antrags erklärt werden. Was also erklärt, warum eine Reform kommen muss, wird dann oft als Grund hergenommen, warum es zu keiner Reform kommen soll.
1. Laufende Reformen
Manche Vorhaben sind überfällig, wie die Akademisierung der Psychotherapie. Die wird seit Jahren diskutiert und gefordert, soweit man weiß, gibt es auch seit Jahren schon eine fertige Gesetzesvorlage im Gesundheitsministerium. Nachdem die aber einfach nicht in Begutachtung geschickt wird, sollte ein Antrag die Notwendigkeit der Reform betonen. Der Gesundheitsminister wird also aufgefordert, das überfällige und in seinem Haus schon fertig ausgearbeitete Gesetz vorzulegen. Ein Antrag, der leicht angenommen werden könnte. Alle freuen sich, die Regierung kann Zusammenarbeit mit der Opposition behaupten und eine sowieso fertige Geschichte abschließen. Genau weil die Reform aber überfällig ist, wird der Antrag vertagt, und zwar mit dem Argument, dass ohnehin an einem Reformprozess gearbeitet würde. In der Zusammenfassung klingt das dann so: „Die Vertagungsanträge zu beiden Themen argumentierten die Koalitionsfraktionen mit bereits laufenden Prozessen. Auch Gesundheitsminister Johannes Rauch verwies darauf, dass Änderungen in Ausarbeitung seien.“
2. Zeit
Auch die Zeit kann zum Argument für Vertagungen werden. Beispielsweise wenn es einstimmige Anträge gibt, dass eine gewisse Gesetzesänderung erfolgen soll. Die bedeutet oft nichts, bis es zu einer Umsetzung kommt, dauert es oft jahrelang. So beispielsweise bei einer Unterhaltsgarantie, dem Eltern-Kind-Pass oder einem Verbot der Konversionstherapien. Spannend ist dann, dass genau solche Anträge, die vereinbarte Beschlüsse in Erinnerung rufen, ebenso vertagt werden. Die Begründung: Man dürfe das nicht übereilen.
3. Formelles
Alternative Varianten gibt es noch in ausreichender Bandbreite. Es braucht zwei Minister:innen, die zusammenarbeiten müssen. Selbst wenn Anträge in zwei zugehörigen Ausschüssen an beide Minister:innen gestellt werden und diese zur Zusammenarbeit aufgefordert werden, ist das ein Vertagungsgrund. Denn man könne ja nicht nur einen Antrag annehmen oder ablehnen – und so werden einfach idente Anträge auf Zusammenarbeit in zwei Ausschüssen vertagt. Selbst, wenn diese nur die Einsetzung eines überfälligen Arbeitskreises fordern. Weiter geht so trotzdem nichts – das zeigen z.B. die Vertagungen rund um das Thema Schulgesundheit.
4. Uneinigkeit
Seltener, aber ehrlicher, sind Vertagungen, weil die Regierungsparteien sich nicht einig sind. So beispielsweise bei der Forderung, dass für ukrainische Frauen, die vergewaltigt wurden, ein Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen sichergestellt werden müsse. Da man sich innerhalb der Koalition offenbar über Schwangerschaftsabbrüche generell nicht einig sei, könne Opfern von sexueller Gewalt in dieser Hinsicht nicht geholfen werden – also wurde auch dieser Antrag vertagt.
5. Verhandlungsverzögerung
Besonders spannend wird es, wenn Vertagungen Anträge der Regierung betreffen. Klingt komisch? Kein Wunder. Denn theoretisch sollten Regierungsanträge ja Gesetzesvorlagen sein und im Ausschuss fertig ausformuliert. Die haben üblicherweise Begutachtungsfristen, liegen länger im Parlament, und die Koalition sollte sich vor Vorlage einig über den Inhalt sein. Viele Regierungsanträge werden aber nicht ordentlich eingebracht, sondern umgehen als Initiativanträge den parlamentarischen Prozess. Genau das führt dazu, dass eben auch Regierungsanträge vertagt werden – so geschehen beispielsweise erst im Dezember 2022 im Fall des Stromkostenzuschussgesetzes.
Showpolitik als Begleitmusik zur Vertagung
Für Regierungsanträge sind Vertagungen eine Seltenheit. Für alle anderen sind sie die tägliche Realität in den Ausschüssen. Nicht die Idee zählt, sondern das Parteilogo der Idee. Doch was bedeutet das eigentlich für die Demokratie?
Ziel des Parlamentarismus eine lebendige Diskussion, ein Austausch von Ideen. Und vor allem auch das Abwägen und Abstimmen darüber – so werden Plenardebatten für die Öffentlichkeit mit Leben gefüllt. Was wurde im Parlament gearbeitet? Welche Ideen wurden verworfen, worauf will man hinarbeiten? Wer das wissen will, muss sich aus den Ausschussdiskussionen oder Pressekonferenzen der Regierung mühsam einen Überblick erarbeiten. Denn gemeinsame Beschlüsse zu solchen Vorhaben gibt es nicht.
Um überhaupt Inhalte präsentieren zu können, ist man im Gleichbehandlungsausschuss beispielsweise dazu übergegangen, bereits beauftragte, finanzierte und teilweise sogar schon durchgeführte Maßnahmen vorzuschlagen – die Regierung fordert sich damit nunmehr selbst auf, bereits Umgesetztes umzusetzen. Die Debatten im Nationalrat zu solchen Anträgen sind relativ entbehrlich, das hat man auch im Dezember 2022 gesehen.
Welcher Eindruck genau beim Publikum durch so eine Vorgehensweise entstehen soll, erschließt sich aber nicht ganz genau. Eine größere Begeisterung für Politik wird es nicht sein – und Vertrauen in den Fleiß der Abgeordneten wird man auch nicht provozieren. Denn wer nicht zufälligerweise die Parlamentskorrespondenz liest oder Tagesordnungen selbst verfolgt, bekommt keinen Eindruck davon, woran wirklich gearbeitet wird. Einblick gibt es immerhin auch auf der Website des Parlaments, da die vertagten Anträge in den Ausschüssen in einem eigenen Feld gesammelt sind und so jeder ansehen kann, welche Ideen schon alle auf Eis gelegt wurden.
Vertagungen killen den Parlamentarismus
Hin und wieder wird spontan ein Gesetz beschlossen. Eben ohne Begutachtung oder öffentliche Diskussion über Inhalte. Ganz selten werden Anträge angenommen, noch seltener werden diese zu gemeinsamen Anträgen, also solchen, bei denen sich mehrere Parteien auf eine gemeinsame Forderung einigen. Dahinter stehen dann wochenlange Diskussionen über Formulierungen – bei Entschließungsanträgen bedeutet das dann eben wieder langes Warten auf tatsächliche Gesetze.
Bei Oppositionsanträgen, die tatsächlich den Wortlaut eines Gesetzes ändern, kommt es de facto nie zu einem gemeinsamen Beschluss. Denn Gesetzestexte behält die Regierung sich selbst vor – die Oppositionsparteien dürfen sich nur aussuchen, inwiefern sie zustimmen. Wird die Zustimmung durch die Regierung verweigert, wird aber meistens vertagt. Denn gerade in den Fachthemen gibt es oft klare Einigkeit darüber, was sinnvolle Weiterentwicklungen wären und was nicht. Ist ein Antrag aber einmal so jenseitig, dass er abgelehnt wird, ist es fast schon ein Sieg für die Antragsteller:innen. Denn so bekommen sie Redezeit im Plenum und dürfen öffentlich erzählen, welche Ideen sie gehabt hätten.
Der größten Sieg, den man in Ausschüssen sonst erzielen kann, ist weitaus kleiner: Das ist der, wenn man richtig geraten hat, welche Regierungspartei den Vertagungsantrag stellt. Belohnung gibt es dafür aber keine. Und es ist auch ein trauriges Symbol dafür, was Vertagungen mit dem parlamentarischen Prozess anrichten.