Wie liberal ist … Anime?
Die wichtigsten Elemente der japanischen und mittlerweile auch österreichischen Jugendkultur haben oft einen tieferen Hintergedanken. Denn Anime und Manga sind ein Ventil in einer konservativen Gesellschaft, die nur so ihren Wunsch nach Freiheit ausdrücken kann.
Auch wenn Japan fast 10.000 Kilometer von uns entfernt ist: Anime und Mangas sind schon seit Jahren in Österreich präsent. Seit den 90er Jahren ist die Kunstform in Japan als „eigenständige, förderungswürdige Kunstform“ anerkannt. Aber was hat das mit Freiheit zu tun?
Progressiv und dennoch konservativ?
Wenn sie an Japan denken, fallen den meisten Menschen die bekannten Dinge ein: Sushi, Bonsai-Bäume, Kultur, Ordnung, Harmonie, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Ein Land, welches nur so vor Fortschritt und Innovation strotzt und eine der großen Wirtschaftsmächte im ostasiatischen Raum ist. Trotzdem ist Japan gesellschaftlich nicht so progressiv, wie man es bei einem westlichen Land erwarten würde.
Das beginnt schon bei der gesellschaftlichen Situation: Die japanische Gesellschaft basiert auf strikten Regeln und Vorgaben. So zeigen Japaner:innen oft nicht, was sie wirklich denken, sondern versuchen so wenig wie möglich aufzufallen. Die sogenannte Schamkultur sieht folgendermaßen aus: Es gilt grundsätzlich, so wenig wie möglich bei anderen Personen anzuecken. Schamkultur beruht auf einer äußeren Instanz, die Fehlverhalten sanktioniert, während Schuldkultur auf einer inneren Instanz oder einem Gewissen beruht.
Denn die japanische Gesellschaft ist im Vergleich zu unserer Gesellschaft kollektivistisch und nicht individualistisch. Das heißt, dass das Individuum sich der Masse anzupassen hat. Damit verbunden ist das große Gemeinschaftsgefüge und die Identifizierung mit übergeordneten Ebenen wie beispielsweise der Schule oder der Firma. So ist es in japanischen Schulen normal, sich für außerschulische Clubs einzuschreiben. Diese sorgen für ein Gemeinschaftsgefüge und sollen die Schüler:innen dazu bringen, ihre Schule bei Veranstaltungen zu repräsentieren.
Auch die Geschäftswelt ist anders, als wir es in Europa gewohnt sind. So ist es in japanischen Unternehmen völlig normal, regelmäßig Überstunden zu leisten und auch noch nach der Arbeit mit dem Chef und den Kolleg:innen gemeinsame Aktivitäten durchzuführen. Denn in Japan wird es nicht gern gesehen, dass die Belegschaft vor dem Chef nach Hause geht. Arbeitet dieser jedoch bis spätabends – was eher die Regel als die Ausnahme ist – kommt es häufig dazu, dass männliche Arbeiter für eine längere Zeit nicht nach Hause kommen. Der immense gesellschaftliche Druck, der schon in der Schule beginnt, führt zu einer erhöhten Suizidrate. Zwar gehen Suizide durch öffentliche Maßnahmen wie Gesetze zur Suizidpräventation, Förderung der psychischen Gesundheit etc. zurück, trotzdem ist diese weit höher als in anderen westlichen Ländern in Europa.
Selbstverständlich kann man nicht die gesamte Gesellschaft über einen Kamm scheren, dafür sind Gesellschaften allgemein zu facettenreich. Dennoch gibt es klare Tendenzen, die für uns Europäer:innen oft schwierig nachzuvollziehen sind.
Welchen Einfluss haben Anime und Manga auf den Liberalismus im geschichtlichen Kontext?
Anime und Manga sind japanische Formen von Zeichentrick und Comics, die eine lange und vielfältige Geschichte haben. Die ersten Vorläufer von Manga waren die „Kibyoshi“, kleine Bücher mit Bildergeschichten und Texten, die im japanischen Hochmittelalter (1600–1868) entstanden.
Anime und Manga haben in Japan viel zur Demokratisierung, Modernisierung und Globalisierung des Landes beigetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Anime und Manga von den US-Amerikanern als Mittel zur Umerziehung und Demokratisierung der japanischen Bevölkerung genutzt. Sie unterstützten die Manga-Industrie und überwachten die Inhalte, die Werte wie Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte vermitteln sollten.
In den 1980er und 1990er Jahren wurden Anime und Manga zu einem globalen Phänomen, das transkulturellen Dialog und Austausch förderte. Sie inspirierten andere Länder, eigene Formen von Comics und Animation zu entwickeln oder sich für die japanische Kultur und Politik zu interessieren. Heute werden sie weiterhin als Mittel zur Demokratisierung genutzt oder diskutiert. Sie bieten eine Plattform für verschiedene Stimmen, Meinungen und Identitäten, die sich für mehr Freiheit, Gerechtigkeit oder Pluralismus einsetzen oder diese hinterfragen.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Wie vermitteln Anime und Manga liberale Werte?
Ein liberaler Wert ist die Freiheit des Individuums, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und seine eigenen Ziele zu verfolgen. Dieser Wert spielt oft in Anime und Manga, die sich um Abenteuer, Selbstentfaltung oder Rebellion drehen, eine wichtige Rolle. Zum Beispiel zeigen Anime und Manga wie „One Piece“ oder „Naruto“ die Reise von Charakteren, die ihre Träume verwirklichen wollen oder gegen Unterdrückung kämpfen – die Erzählung, die in vielen Werken vorkommt, ist Aufstieg durch Leistung, durch das über sich Hinauswachsen.
Ein anderer liberaler Wert ist die Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität oder ihrer Religion. Zum Beispiel zeigen Anime und Manga wie „Yuri!!! on Ice“ die Beziehungen von gleichgeschlechtlichen Charakteren, die sich über gesellschaftliche Normen oder Grenzen hinwegsetzen oder diese hinterfragen. Insbesondere in Japan ist gleichgeschlechtliche Liebe bzw. Sexualität allgemein ein Tabuthema.
Ein dritter liberaler Wert ist die Vernunft als Grundlage für das Erkennen der Wahrheit und das Lösen von Problemen. Anime und Manga wie „Dr. Stone“ oder „Death Note“ behandeln politische und moralische Themen, die mit einer mystischen Prämisse noch spannender gemacht werden.
Woran man den „Otaku“ erkennt
Heute, im Jahr 2023, sind Anime und Manga so beliebt wie nie zuvor und ein Exportschlager für die Nation. Die Industrie erwirtschafte im Jahr 2022 677 Milliarden Yen (etwa 4,5 Milliarden Euro) und erzeugt einen höheren Gewinn als klassische Taschenbücher.
Mit der Anime- und Mangakultur in Verbindung steht auch die sogenannte Cosplay-Kultur: Als Cosplay bezeichnet man das Darstellen einer fiktiven Figur mithilfe eines Kostüms. Damit verbunden ist auch das Nachspielen der Persönlichkeit des Charakters mit all seinen Macken. Personen, die sich sehr stark mit Anime und Manga auseinandersetzen, werden als „Otaku“ bezeichnet – in Österreich kennt man sie insbesondere als Besucher:innen von Events wie der „Vienna Comic Con“, wo viele Otakus im Cosplay ihren Lieblingscharakter präsentieren.
Was die Szene so beliebt macht, ist der Wunsch, sich abzugrenzen und zu identifizieren. Denn die Elemente der Kultur beinhalten einerseits fiktive Elemente, aber häufig auch eine Verbindung zur Realität. Die Geschichten geben außerdem das Gefühl, dass das Erreichen von Zielen durch Leistung und Arbeit gelingen kann: Im Japanischen wird das als „Ganbatte“ bezeichnet, was so viel wie „dranbleiben“ bedeutet. Ein Grundsatz, dem auch der Liberalismus entspricht – etwas mit seiner eigenen Leistung zu erreichen.
Wieso „Otaku“ einen schlechten Ruf haben
Wegen der hohen Last durch die Vorstellungen und Erwartungen der Gesellschaft ziehen sich insbesondere junge Japaner:innen in die Parallelwelt der „Otakus“ zurück. Gerade als das Phänomen neu war, wurden sie mit Stereotypen in Verbindung gebracht: etwa der Unfähigkeit, normale zwischenmenschliche Beziehungen zu führen.
Das liegt auch daran, dass der Name „Otaku“ schon in seiner Anfangszeit sehr negativ belastet war. Dazu führte der Fall des Serienmörders Tsutomu Miyazaki: Anfang der achtziger Jahre wurden vier junge Mädchen im Alter von vier bis sieben Jahren vergewaltigt und getötet. Bekannt wurde er dafür – und für seine riesige Sammlung an Videos, mehr als 5.800 Kassetten. Miyazaki war häufiger Gast auf einer Anime-Messe namens „Comiket“, produzierte und verkaufte eigene Manga und wurde von den Medien als „Otaku“ bezeichnet. Das Wort „Otaku“ hatte schon vorher eine negative Bedeutung als „dunkler Einsiedler“ – aber durch diesen Vorfall, den „Otaku-Mörder“ verschlechterte sich der Ruf der Community noch mehr.
Erst in den neunziger Jahren begann man, das Ansehen der Kultur zu fördern. Damals begannen bekannte Autor:innen der Szene, das Otaku-Phänomen als eine moderne und positive Jugendkultur darzustellen und sich mehr an die Realität anzunähern, da Personen wie Tsutomu Miyazaki extreme Ausnahmefälle sind – und nicht die Regel. Obwohl sich die Situation gebessert hat und Anime-Fans im Westen bereits größeres Ansehen genießen, kämpfen „Otaku“ in Japan weiterhin mit vielen Vorurteilen und gesellschaftlicher Ablehnung.
Flucht aus der konservativen Realität
Wir können also zusammenfassend sagen, dass die Kultur viele Dinge des Liberalismus abdeckt: den Individualismus, den Willen, etwas durch eigene Leistung zu erarbeiten, und den progressiven Ansatz, Personen nicht durch Kollektivismus einen Lebensstil aufzuzwingen.
Otakus sind Menschen, die eine besondere Leidenschaft für Anime, Manga oder andere Aspekte der japanischen Popkultur haben. Sie sind keine Freaks, Nerds oder Loser, als die sie oft von der Gesellschaft abgestempelt oder verspottet werden. Sie sind vielmehr kreative, neugierige und offene Menschen, die sich für eine andere Kultur interessieren und diese in ihr Leben integrieren. Sie bilden Gemeinschaften, in denen sie ihre Interessen teilen und sich gegenseitig unterstützen. Sie sind keine Bedrohung oder Störung für die Gesellschaft, sondern eine Bereicherung und Vielfalt. Anime-Fans verdienen Respekt und Anerkennung für ihre Leidenschaft und ihre Identität. Sie haben das Recht, so zu sein, wie sie sind, ohne diskriminiert oder ausgegrenzt zu werden. Ganz im Sinne des liberalen Gedankens.