Wie liberal ist … das Gym?
Die Evidenz wird immer klarer: Es gibt kaum etwas, was annähernd so wichtig für Individuen und die Gesellschaft als Ganzes ist wie Sport. Das Gym ist aber mehr als nur ein veritabler Lebensverbesserer: Es ist eine der wenigen verbliebenen Festungen liberaler Werte in einem leistungsskeptischen Land. Eine Streitschrift für das Gym und die körperliche Selbstoptimierung.
„Wenn man Sport in eine Tablette packen könnte, wäre es das meistverschriebene Medikament aller Zeiten.“
Dieses Zitat wurde bereits dutzenden Personen zugeschrieben und x-fach wiedergegeben. Trotzdem kann man es nicht oft genug wiederholen, denn ganz herumgesprochen hat es sich anscheinend noch nicht.
Die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass regelmäßig betriebener Sport einen schwer zu übertreibenden gesundheitlichen Nutzen hat, ist so überwältigend, dass man kaum weiß, wo man anfangen soll: längeres Leben, deutlich mehr gesunde Lebensjahre, bessere geistige Fitness, höherer IQ, weit geringeres Risiko eines verfrühten Todes, bessere psychische Gesundheit, höheres Selbstbewusstsein, geringere Verletzungsgefahr durch Unfälle, geringere Wahrscheinlichkeit, an Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu leiden, mehr Kraft im Alltag, höhere gefühlte Lebensqualität und größeres Wohlbefinden, mehr Mobilität im Alter, gesündere Schwangerschaften, mehr Spielraum für Ernährungssünden, geringere Gesundheitsausgaben und eine attraktivere Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Das Gym: Lebensretter und liberale Bastion
Vor allem Kraftsport und die damit verbundene Stärkung des Bewegungsapparats, des Bindegewebes und der Knochendichte hat unglaublich wichtige Effekte: Vorbeugung von Verletzungen, Verhinderung von Unfällen, erhöhte Lebensqualität (vor allem im Alter) und deutlich reduzierte Wahrscheinlichkeit über alle Todesursachen gerechnet. Gerade für Frauen sind die Vorteile in jedem Alter immens, sie reichen von leichteren Geburten zur Vorbeugung von Osteoporose. Kurzum, wer ein besseres Leben will, macht Sport – vor allem Kraftsport – und wer eine bessere, glücklichere und gesündere Gesellschaft will, ermutigt ihn. Das Gym rettet Leben, so viel ist klar.
Umso erstaunlicher ist es, welche Skepsis und Animosität Fitness und Kraftsport häufig entgegengebracht wird. Gerade bei jener Gruppe von Journalist:innen und Twitter-Usern, für die sowieso alles neoliberal und problematisch ist, wird die alte Arroganz und Skepsis der vermeintlichen Intellektuellen gegen jede Form von körperlicher Betätigung hochgehalten. Von „neoliberaler Selbstoptimierung“, dem „Körper als Statussymbol“ und „Fat-Shaming“ ist die Rede. Davon, dass gerade junge Männer vermeintlich „unerreichbaren“ toxischen Männlichkeitsidealen nachlaufen und Frauen einem „Schlankheits- und Fitnesswahn“ verfallen, deren Folgen anscheinend unweigerlich „Essstörungen aller Art, Bodyshaming und Sexismus“ sind. Was sei das für eine Gesellschaft, wo das Bier nach der Arbeit für einen Proteinshake eingetauscht werde?
Letzteres lässt sich relativ schnell beantworten: eine Gesellschaft, in der Menschen länger, glücklicher und gesünder leben und mit 72 ihre Enkelkinder herumschupfen, statt unbeweglich halbtot am Dialysegerät zu hängen. Furchtbar. Aber besonders faszinierend ist der Konnex des Fitnesscenters mit (neo)liberalen Werten, der immer wieder hergestellt wird. Denn ganz von der Hand zu weisen ist er tatsächlich nicht.
Das Gym ist divers – aber ohne Identitätspolitik
Meine Diskont-Fitnessbude bildet unsere Gesellschaft in all unserer Vielfalt ab: Dort sehe ich Muslime, die neben einem schwulen Pärchen trainieren, junge Flüchtlinge, die sich vom älteren Herrn mit osteuropäischem Akzent Tipps fürs Squatten holen, und ältere Damen, die am Crosstrainer auf Serbisch plaudern, während neben ihnen der deutsche Numerus-clausus-Flüchtling beim Radfahren für die Prüfung lernt.
Ähnliches beschreibt Jörg Scheller, Bodybuilder und Kulturwissenschaftler in seinem großartigen Artikel über den Mikrokosmos Gym. Doch er irrt, wenn er das Fitnesscenter deshalb als politikfreien Raum beschreibt. Gerade heute, wo woke Identitätspolitik Diversität nicht ohne Hierarchisierung verstehen kann und Individuen zur ewigen Gefangenschaft in ihren Privilegien oder zum Opferstatus ohne Handlungsspielraum verdonnert werden, ist das Gym eine Bastion liberaler, meritokratischer Gesellschaftsvorstellungen. Egal wer man ist, wen man liebt oder wo man herkommt: Die Hantel wiegt für jeden gleich viel, und es kann sie auch niemand für dich heben. Identität ist hier kein passives Schicksal. Das Einzige, was zählt, ist dein Kampf gegen das Eisen.
Das Gym ist individuell
Die äußere Diversität ist genauso vielfältig wie die unterschiedlichen Ansprüche und Ziele, die jede:r dort an den Tag legt. Viele wollen nur etwas gesünder werden, ein paar Kilo abnehmen. Manche wollen sich bis ans Limit treiben. Die menschliche Biologie ist divers, sie ist aber, wie sonst alles in der Welt, auch nicht immer fair. Gene, Alter, Geschlecht und das Fitnesslevel, mit dem du beginnst, beflügeln oder beschränken dich – und manche Menschen haben einfach bessere Hebel für verschiedene Übungen oder einen aktiveren Stoffwechsel. Doch egal wer man vorher war, welche guten oder schlechten Voraussetzungen man hat oder was die individuellen Ziele sind – jede:r, der oder die regelmäßig hingeht, hart an sich arbeitet und seinen inneren Schweinehund überwindet, steht in ein paar Wochen besser da. Das Gym verspricht keine Gleichheit oder Fairness. Sondern dass sich Leistung unweigerlich lohnt.
Das Gym steht für Selbstdisziplin und Leistung
Zwei Ideale, die kaum trennbar von individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand und Wohlergehen sind, aber von vielen verteufelt werden, sind der Erhalt von Selbstdisziplin und das Erbringen von Leistung. Auch hier steht das Gym als eine der letzten Bastionen als Fels in der Brandung in einem Meer aus konsumorientiertem Hedonismus, gefeiertem Opferstatus und tiefer Skepsis gegenüber Menschen, die sich nicht mit dem vorgelebten Lebensentwurf zufriedengeben wollen.
Egal was man beruflich macht: Im Gym kommen wie im Leben die besten Fortschritte, wenn man routinemäßig ans Limit geht, wenn man kontrolliert übertreibt, wenn man bewusst das Unmögliche anstrebt. Das Gym lügt nicht: Wer leistet, wird früher oder später belohnt; und die Erfolge, die Lifts, die Rekorde – die bleiben für immer. Das ist gerade für junge Menschen, die sowohl im Gym als auch im Leben am Anfang ein wenig orientierungslos sind, so wichtig zu lernen: Routinen zu entwickeln, aus der Komfortzone zu kommen und auch an den Tagen voranzutreiben, an denen man absolut keine Lust oder Energie hat. Heute schon fast eine subversive Botschaft – im Gym eine zeitlose Wahrheit, die sich nahtlos auf die Welt da draußen übertragen lässt.
Natürlich, die vielen gesundheitlichen Vorteile des Gyms genießt man grundsätzlich auch, ohne dass man sich bis ans Limit quält oder liberale Werte teilt. Vielleicht ist das Gym tatsächlich nur ein unpolitischer Raum, wo Menschen hingehen, um schwere Dinge zu heben. Aber mich lässt der Verdacht nicht los, dass das Gym einen unweigerlich nachhaltig ändert. Und dass unsere Gesellschaft nicht nur gesünder, sondern resilienter, disziplinierter und ambitionierter wäre, wenn die hunderten Menschen, die jedes Jahr im Jänner mit guten Vorsätzen mein Gym überlaufen, im März noch da wären.