Wie liberal ist … das „Land of the Free“?
Als ich diese Rubrik im Materie-Newsletter angekündigt habe, musste ich ein Symbolbild für Freiheit suchen. Ich konnte mich zwischen jungen Frauen in enthusiastischen Posen auf Berggipfeln entscheiden, wenn es um „Freedom“ geht – oder für die Freiheitsstatue, wenn es um „Liberty“ geht.
Ich habe die Freiheitsstatue genommen. Und direkt gedacht: Darüber werden wir reden müssen.
Denn die USA sehen sich zwar gerne als „Land of the Free“ – aber ich würde da bei allem Respekt stark widersprechen.
Aber das ist eigentlich ein Dealbreaker, fällt mir auf. Wenn die Freiheitsstatue dort steht, die Hymne und der inoffizielle Titel des Landes die Freiheit beinhalten und dieses Wort dort so eine entscheidende Rolle einnimmt – wie kommt man zur Behauptung, dass die USA nicht liberal sein könnten?
Dazu kommt noch, dass man damit als Österreicher vorsichtig sein muss. Die Geschichte der USA mag auch unrühmlich sein, aber immerhin haben sie das vergangene Jahrhundert damit verbracht, die größten Bedrohungen gegen die Freiheit zu besiegen: den Faschismus und den Kommunismus. Wahrscheinlich sollte ich also einfach dankbar sein, mich nochmal neu ransetzen und die Frage überdenken.
Ich hätte diesen Artikel ja auch einfach anders nennen können. „Wie liberal ist“, kombiniert mit einem bestimmenden Element aus der freisten Nation der Welt. Ich bin damit noch nicht fertig, aber gehen wir es doch einfach mal als Gedankenspiel durch, oder?
Wie liberal ist es, wenn man sich medizinische Grundversorgung leisten können muss? Wie liberal ist es, wenn Menschen deshalb lieber einfach keine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, Ärzt:innen misstrauen oder einfach das Taxi ins Krankenhaus nehmen, weil sie sich die Rettung nicht leisten können?
Wie liberal ist es, wenn jeder eine Waffe kaufen kann? Im Sinne eines „liberalen Waffenrechts“ sicher sehr – aber sind die Opfer bei den zahlreichen School Shootings, auf die sich Schüler:innen schon aktiv vorbereiten müssen, wirklich so viel besser als, sagen wir, konservativ getötete Kinder? Und Nebenfrage: Wäre das Recht auf Leben nicht auch liberal?
Wie liberal ist es, wenn religiöse Gruppierungen einen enormen Einfluss auf die Politik haben? Gerade bei den Republikanern sieht man immer wieder den Einfluss der Evangelikalen. Es sei jedem unbenommen, die eigene Religion zu leben – aber wenn es z.B. um das Recht auf Abtreibung geht, baden andere die Konsequenzen dieses Glaubens aus. Wie liberal wäre es eigentlich, eine:n Atheist:in ins Weiße Haus zu wählen? Wahrscheinlich ist es jedenfalls nicht, wenn man die US-Bevölkerung fragt.
Wie liberal ist es, wenn die Politik massiv von Spenden abhängig und dabei auf das Kapital von Konzernen und Lobbygruppen angewiesen ist? Man könnte jetzt sagen: Markt regelt. Aber wenn im Kongress jemand sitzt, der nebenbei noch mit Aktien ein Geschäft damit machen kann, wie er das Land lenkt, ist das vermutlich nicht im besten Interesse der Bevölkerung.
Und wie liberal ist eigentlich ein Zweiparteiensystem, bei dem sich beide Parteien in wesentlichen Punkten einig sind? Wie liberal ist eine Wahl, bei der die entscheidenden Themen politische Korrektheit, das Waffenrecht, Abtreibung und die „Frage“ sind, ob der menschengemachte Klimawandel existiert?
Aber hey: Immerhin haben die USA geringe Steuern, in manchen Bundesstaaten gibt es sogar eine Flat Tax. Wir haben mehr Angebot im Supermarkt, und das ist auch gar nicht so schlimm, wenn einem Lebensmittelqualität egal ist. Und coole Erfindungen kommen auch von dort, vor allem weil die großen Tech-Unternehmen dort geringe bis gar keine Steuern zahlen.
Manchen mag das reichen, um die USA als liberal zu bezeichnen. Aber ich würde darüber gerne noch ein bisschen nachdenken. Zumindest, bis ich die richtige Frage gefunden habe.