Wie liberal ist … das Marvel Cinematic Universe?
Ja, ich weiß. Superhelden-Filme. Langweilig.
Gleich zu Beginn dieses Texts muss ich mich also als popkulturelle Basic Bitch outen. Nicht nur, weil ich Superhelden-Filme genieße. Sondern auch, weil ich sie genieße, ohne die Comics gelesen zu haben. Zu wenig, um ein Nerd zu sein, zu viel, um ein Filmliebhaber zu sein, und nur noch einen Abstieg vom Fast and the Furious-Franchise entfernt.
Jetzt, wo ich 80 Prozent des Publikums verschreckt habe: Hi, liebe Casual-Marvel-Fans, und willkommen zu meinem Deep Dive in den versteckten, ja, sehr gut versteckten Liberalismus in den über 40 Werken, die uns seit 2008 regelmäßige Highs in unserem Leben geben. Im Sinne unseres Bildungsauftrags holen wir aber zuerst alle ab, die für Politik und Liberalismus hier sind und vielleicht noch nicht 32 Filme gesehen haben, um die Story nachvollziehen zu können.
Was bisher geschah
Die Welt, in der die Marvel-Filme spielen, ist eine Welt, in der sich alles um Superhelden dreht. Anders als in anderen Franchises wie The Boys von Amazon Prime sehen wir die Geschehnisse aber kaum durch die Brille normaler Menschen, die darin leben, sondern immer nur durch die der Helden.
Der Spannungsbogen ist die klassische Heldengeschichte: Wir lernen Charaktere kennen, die neben ihren Superkräften auch noch ihre guten und schlechten Charakterzüge haben, und schauen ihnen danach zu, wie sie ihr Abenteuer erleben. Was meistens heißt, einen Schurken zu besiegen. Der zusätzliche Reiz, den Marvel z.B. den Filmen des Rivalen DC voraus hat, besteht aber in der Kontinuität: Superhelden kommen auch außerhalb ihrer eigenen Spielfilme vor, sie haben Gastauftritte in anderen. Die Person, die du 2008 in einem Film kennengelernt hast, trifft 2018 auf deinen Lieblings-Nebencharakter aus einem Film aus 2014. Das MCU lebt nicht nur von Kampfszenen, sondern auch von Easter Eggs und der menschlichen Interaktion der Charaktere, die wir mit der Zeit einfach gern haben.
Die großen Konflikte der Marvel-Filme beschränken sich also nicht auf langweilige politische Meetings, in denen die Staaten der Welt über ihre Probleme reden – sondern in der Regel darauf, wer der Stärkere ist. Superschurken versuchen, Macht zu missbrauchen, und die Superhelden nehmen ihre noble Aufgabe wahr, sie davon aufzuhalten. Am Ende gewinnt meist, aber nicht immer, das Gute. Und zwar so spektakulär, dass niemand nach einem rechtsstaatlichen Rahmen ruft.
Die Infinity Saga als politische Auseinandersetzung
In Age of Ultron geht es um, eben, Ultron: eine Mischung aus künstlicher Intelligenz und autonomem Waffensystem, das die Welt vor ihren stärksten Feinden beschützen soll. Programmiert wird Ultron von Iron Man und dem Hulk (der, wenn er nicht gerade groß und grün ist, eigentlich einfach nur ein g’scheiter Typ ist), die sich nach ihrem ersten Avengers-Film darauf einstellen, dass es irgendwann zum nächsten Superschurken kommen wird, dem man vielleicht nicht gewachsen ist. Ultron teilt die Vision seiner beiden Väter aber nicht – und will die Menschheit zerstören, bevor sie sich selbst zerstört. In der fiktiven osteuropäischen Stadt Sukovia kommt es zum Häuserkampf zwischen Ultrons tausend Roboter-Kopien und den Avengers – und die Bürger:innen sind auf einmal in einem Kriegsgebiet.
Als Reaktion auf die Ereignisse aus Age of Ultron reagiert zum ersten Mal im MCU die Politik. Mit dem „Sukovia-Akkord“ sollen Superhelden reguliert werden und einfach zusammengefasst unterschreiben, dass sie keine Selbstjustiz betreiben. Die Avengers sind sich uneinig, wie sie darauf reagieren sollen: Captain America argumentiert, man dürfe nicht zur Seite treten, wenn man sehe, das Unrecht passiere, geprägt durch seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg (in den Marvel-Comics besiegt Captain America Hitler, in den Filmen eine Art „Super-Hitler“ – es ist nicht so trashig, wie es klingt). Der eher als narzisstischer Antiheld bekannte Iron Man ist wiederum von den Erfahrungen der vorherigen Filme so gezeichnet, dass er der Regulierung zustimmt: Auch unsere Helden können sich nicht darauf verlassen, immer das Richtige zu tun.
In „Avengers: Civil War“ kommt es zum Kampf zwischen zwei Teams von Superhelden, die alle glauben, auf der richtigen Seite zu stehen. „Team Rechtsstaat“ um Iron Man und Spiderman gewinnt, und Captain America endet als gesuchter Terrorist. Damit ist zumindest eine minimal regulierte Superhelden-Landschaft gegeben – aber die Avengers sind so gespalten, dass sie die Welt in den nächsten Filmen nicht beschützen können: Der übermächtige Gegner Thanos besiegt zuerst Team Iron Man und dann Team Captain America, um am Ende das halbe Universum auszulöschen. Ob das ohne die lästige Regulierung wohl besser ausgegangen wäre?
Und das sind nur die großen Beispiele für die Frage nach Selbstjustiz und Regulierung. Schon in den alten Spiderman-Filmen, die noch von Sony produziert worden, kommt der immer wieder aufkommende Power-Move bei Straßenschlachten zum Einsatz: Doctor Octopus bewirft Spiderman mit einem Auto. Während Spiderman noch ausweicht, kommt es in Avengers: Infinity War zum Auto-Wurf auf Doctor Strange – der das Auto einfach direkt in der Mitte halbiert, statt sich einfach zu ducken. In jedem Film kommen unschuldige Bürger:innen ohne Superkräfte zum Handkuss, den Schaden auszubaden. Und wer Spiderman 2 mit Tobey Maguire gesehen hat, weiß, warum öffentliche Verkehrsmittel keine sichere Alternative sind.
Im liberalen Multiversum
Während die Infinity Saga mit dem Recht des Stärkeren losgeht und das Bedürfnis nach Regeln noch etwas auf sich warten lässt, werden die neuen Filme etwas moderner: In den Werken nach Avengers: Endgame ist der Institutionalismus sogar das Leitmotiv.
Während Hulk noch ein klassischer Action-Film war, ist She-Hulk eine Anwaltkomödie über eine Superheldin, die im neu aufgekommenen Bereich „Superhero Law“ praktiziert. Der Staat entwickelt langsam Möglichkeiten, auch Menschen mit Superkräften zu bestrafen und in Hochsicherheitsgefängnissen einzusperren, und wenn sie in der Wut eine Wand zerstören, entsteht endlich auch eine Schadenersatz-Frage.
Dazu kommt die politische Ebene: In UN-Sitzungen diskutieren die Staaten der Welt, wie sie mit dem fiktiven afrikanischen Staat Wakanda umgehen, der ein Quasi-Monopol auf modernste Waffentechnologie hat. Die US-Regierung ernennt einen neuen Captain America, der nicht mehr nur dem Gericht der öffentlichen Meinung verpflichtet ist. Und in „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ treffen wir eine Art Selbstregulierungskörper für Superhelden: die Illuminaten.
Aber die höchste Form der Institution findet Loki in seiner Solo-Serie: Thors Bruder entdeckt die „Time Variance Authority“, die dafür sorgt, dass es nur eine Zeitlinie gibt, von der nicht abgewichen werden darf. Wo normalerweise durch eine Veränderung in der Vergangenheit eine neue Zeitlinie, ein Parallel-Universum entstehen würde, entsteht durch die Arbeit der Behörde: nichts. Ohne groß zu spoilern, was dahintersteckt, bricht Loki diese Behörde auf und sorgt dafür, dass aus einem großen Universum ein Multiversum wird – eine unzählige Anzahl an Universen, die sich oft nur in kleinen Details voneinander unterscheiden.
Aus großer Kraft kommt große Verantwortung
Egal welcher Spiderman-Reihe man anhängt: Dieser Satz zieht sich nicht nur durch seine, sondern durch die gesamte Geschichte des MCU. Es geht darum, wie die Welt damit umgeht, dass es manche gibt, die über den Regeln stehen. Diese Frage wird aber immer nur angedeutet – am Ende muss sich die Welt, ja das ganze Multiversum darauf verlassen, dass die paar, die gleicher sind als alle anderen, die richtigen Entscheidungen treffen. Das mag eine gute Heldengeschichte hergeben, aber keinen anständigen Gesellschaftsentwurf.
Es gibt also nur zwei Wege, wie man zur Behauptung kommen könnte, das MCU wäre liberal. Erstens: „Das Recht des Stärkeren in einer unregulierten Welt“ mit einer Kernforderung des Liberalismus zu verwechseln – das naive libertäre Element kommt in der Tat vor, wenn durch pure Superkraft entschieden wird, wohin der Weg führt. Zweitens: Ich mag Liberalismus, und ich mag Marvel, das muss doch zusammenpassen! Das war auch meine erste Intention, als ich darüber nachdachte, einen Text über Marvel zu schreiben. Aber nicht alle coolen popkulturellen Werke sind liberal, das müssen wir uns eingestehen.
Die Handlung des MCU erzählt die Geschichte der Menschheit, deren Superhelden sich immer größeren Bedrohungen stellen müssen und in dieser ständigen Bedrohungslage auch noch rechtsstaatliche Mindeststandards am Horizont aufkommen sehen. Während Terroristen, Aliens und Superschurken die Sicherheit bedrohen, beschäftigt sich der Rest der Welt mit der Frage, wie man mit dieser Situation umgehen soll.