Wie liberal ist … das Spider-Verse?
Egal wie man zu Comicalben oder dem Superhelden-Genre steht: Wir alle kennen die Geschichte. Der junge Peter Parker, der seine Identität geheim hält, während er als Spiderman an den Hochhäusern von Manhattan entlangschwingt und Verbrechen bekämpft. Der nach dem Tod von Onkel Ben zu einer Einsicht kommt, die längst nicht nur noch in fiktionalen Werken zitiert wird: „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.“
So beliebt diese Geschichte auch ist: Marvel steht vor zwei großen Problemen. Erstens, dass die Rechte für Spiderman in einer finanziell schwierigen Zeit an Sony verkauft wurden, das den Franchise-Superstar verständlicherweise nicht mehr hergeben will. Und zweitens, dass die Geschichte von Spiderman nach dem dritten Reboot im 21. Jahrhundert langsam, aber sicher toterzählt ist.
Beide Probleme werden durch die Ereignisse der letzten Filme elegant gelöst. Auf eine Art, die nicht nur erzählerisch Sinn ergibt – sondern auch einer Liberalisierung der Spiderman-Filme gleichkommt. Vor dieser Erklärung aber noch eine Spoiler-Warnung für die Spiderverse-Filme.
Spiderman muss kein Peter Parker sein
In Spiderman: Into the Spider-Verse merkt man die erste leichte Abweichung von der ewiggleichen Geschichte sofort: Spiderman ist nicht Peter Parker. Oder zumindest nicht nur – denn in diesem Universum gibt es nicht nur den einen „echten“ Spiderman. Durch den Biss einer Spinne bekommt noch ein zusätzlicher Hauptcharakter die Superkräfte, die wir mit Spiderman assoziieren: Miles Morales.
Ja, ein schwarzer Spiderman, ich höre die rechten Talking Points. Aber Miles Morales gibt es nicht nur in den Comics, er hatte sogar schon sein eigenes Playstation-Spiel. Auch im echten Marvel Cinematic Universe – die Spider-Verse-Reihe ist die animierte von Sony – wurde Miles bereits angeteasert. Miles ist die Ausnahme unter all den weißen Peter Parkers und Gwen Stacys. Und ja, wir reden da von der Mehrzahl. Denn das „Spider-Verse“ zeichnet sich durch die Prämisse aus, die auch die klassischen Marvel-Produktionen mittlerweile fordern: dass alle Charaktere in einem „Multiversum“ leben. In den meisten ist Peter Parker Spiderman, aber nicht in allen.
Das eröffnet nicht nur die Möglichkeit eines Miles Morales. Wir treffen den Spiderman Peter B. Parker, der nach seiner Scheidung eine Midlife-Crisis durchlebt, „Spiderman Noir“ aus der schwarz-weißen Zwischenkriegszeit, den britischen „Spiderpunk“ und Peter Porker, ein Schwein im Stil der Looney Tunes. An einer Stelle sieht man sogar kurz einen T-Rex mit Spiderman-Kräften mit dem Namen Peter P’Taker. Ich weiß, wie trashig das für alle klingen muss, die nicht so sehr in der Marvel-Bubble sind – aber es funktioniert.
Die Grenzen der Spiderman-Story
Die Geschichte dahinter ist nämlich gar nicht so banal, wie man nach dieser Erzählung meinen könnte. Es geht eigentlich um die Meta-Ebene der klassischen Spiderman-Erzählung: Auf seiner Reise durch das Spider-Verse trifft Miles nicht nur auf diese zahlreichen Spiderman-Varianten, sondern auch auf den „Chef“ der Spiderpeople (ja, es gibt auch Spiderwomen) – Miguel O’Hara, Comic-Fans besser als „Spiderman 2099“ bekannt. Dieser sorgt dafür, dass niemand den Lauf der Geschichte verändert und jeder Spiderman auch wirklich zu Spiderman wird. Und da kommt die Meta-Ebene ins Spiel.
Spiderman, so erfahren wir im zweiten Teil der Spider-Verse-Reihe, wird nämlich erst dann wirklich zum Helden, wenn er mit einem tragischen Verlust umgehen muss. Und jeder einzelne Spiderman macht diese Erfahrungen: Onkel Ben stirbt, oder ein heldenhafter Polizist stirbt beim Versuch, jemanden zu retten. O’Hara bezeichnet diese Geschehnisse als „Canon Events“ – das, was wir als den Kanon bezeichnen, wird also durch die Handlung legitimiert. Es sind Erzählungen, die wir aus all den Filmen, Serien und Videospielen der Vergangenheit kennen – und die Erklärung ist, dass sie immer passieren müssen.
Genau mit dieser Frage beschäftigt sich die Spider-Verse-Trilogie: Lassen wir uns vom Schicksal definieren? Oder haben wir immer eine freie Wahl, für die es sich zu kämpfen lohnt? Die endgültige Antwort kennen wir noch nicht. Aber der Kampf „Spider-Canon gegen Miles Morales“, der Kampf um die Deutungshoheit für die Spiderman-Reihe, ist mit dem zweiten Teil losgegangen.
Die Folge: Noch mehr Spiderpeople!
Unabhängig davon, wie diese Reihe im dritten Teil ausgeht: Auf der inhaltlichen Front ist der liberale Kampf schon gewonnen. Peter B. Parker, Peter Porker und Peter P’Taker sind kreative Abweichungen der toterzählten Geschichte von Peter Parker. Der indische Spiderman Pavitr, aber auch mehrere Spider-Women, ermöglichen der Spiderman-Erzählung, nicht nur noch für weiße Männer ein Role Model zu bieten, das über sich selbst hinauswächst und für andere einsteht.
Das ist übrigens auch wirtschaftlich ein Vorteil, weil die Frage nach den Rechten für Spiderman damit geklärt sein dürfte: Sony hat sein eigenes Spider-Verse, das Marvel Cinematic Universe darf seinen eigenen Spiderman haben. Das ist innerhalb der Logik eines Multiversums absolut schlüssig, und spätestens seit Spiderman: No Way Home muss sich niemand mehr entscheiden, welchen Spiderman man verfolgt und welcher der „echte“ ist. Eine gute Nachricht für Fans, die mehr Spidey-Content sehen wollen.
Die Frage, wer ein Held sein darf
Mit der Spider-Verse-Reihe ist Sony etwas ganz Großes gelungen. Der Film eröffnet die Möglichkeit für unzählige Spin-offs, die innerhalb einer Gesamtlogik Sinn ergeben. So spart sich nicht nur der Konzern die Antwort auf die Frage, warum es jetzt schon wieder ein Reboot gibt – er ermöglicht auch, Fans für eine neue Art der Spiderman-Erzählung zu gewinnen. Nicht ausgeschlossen, dass wir bald genre-übergreifende Spiderman-Varianten sehen, die wir so noch nie kannten. Es ist die Liberalisierung von Spiderman.
Und die Hauptfigur dieser Liberalisierung ist Miles Morales. Der Protagonist, der sich nicht seinem Schicksal fügen will und dafür kämpft, nicht nur durch seine schlimmsten Episoden definiert zu werden, ist die Speerspitze im Kampf gegen die immergleiche Erzählung. Mit den Spider-Verse-Filmen wird auch die Frage aufgeworfen, wer überhaupt Spiderman sein darf, wer es sein könnte. Und wir hoffen, dass diese Liberalisierung im dritten Teil, der im nächsten März erscheint, mit einem genauso spannenden Showdown abgeschlossen wird.