Wie liberal ist … der Duden?

Die Antwort mag erstaunen, aber: Als Regelwerk ist der Duden viel zu liberal. Das führt zu einem Verlust von Eindeutigkeit und Präzision.
Manchmal ist Liberalismus der falsche Weg. Bevor ihr, liebe angenommene liberale Leserinnen und Leser oder Leser:innen, euch entsetzt abwendet, und die Materie-Redaktion ob dieser Ketzerei mit Protest-E-Mails bombardiert: Es geht um die Rechtschreibung.
Für alle, die sich weder von mangelnder Liberalismus-Begeisterung noch vom Thema Rechtschreibung abschrecken lassen, machen wir mit dem Grundsätzlichen weiter. Man könnte zum Beispiel hinterfragen, ob wir überhaupt eine einheitliche Rechtschreibung brauchen, es hat ja jahrhundertelang auch ohne funktioniert. Aber: Regeln haben durchaus ihren Sinn.
Die Schweizer Diät oder: Warum Rechtschreibung eben nicht egal ist
Die Schweiz war immer schon ein bisschen anders, bekanntlich auch etwas liberaler und sprachlich weniger zentralisiert. So haben unsere Schweizer Nachbarn einen Buchstaben schon vor längerer Zeit abgeschafft: das ß. Damit haben sie die Möglichkeit, zwischen „in Maßen“ und „in Massen“ zu unterscheiden, verloren, was nicht nur Diättipps spannend macht.
Wir sehen also: Sprachregeln ermöglichen präzise Kommunikation. Das ist in einer Sprache, wo ein Wort je nach Betonung bzw. Kontext sein eigenes Gegenteil bedeuten kann (umfahren vs. umfahren, wegweisen vs. wegweisen) keine schlechte Einrichtung. Immerhin haben wir die Möglichkeit, zwischen sitzen bleiben und sitzenbleiben zu unterscheiden – jetzt wieder. Denn 1996 wurde diese Unterscheidung abgeschafft. Doch dazu später mehr.
Wer macht die Regeln?
Die deutsche Rechtschreibung wie wir sie kennen wurde, so ist es Wikipedia zu entnehmen, auf der Orthographischen Konferenz von 1901 in Berlin festgelegt und standardisierte die deutsche Rechtschreibung des 19. Jahrhunderts. Die Regeln wurden 1902 vom damaligen deutschen Bundesrat verabschiedet; Österreich-Ungarn und die Schweiz schlossen sich ebenfalls an.
Seit 1955 wurde die Rechtschreibung durch den Duden verbindlich geregelt, der „maßgeblich in allen Zweifelsfällen“ war. Der Duden galt also als Regelwerk. Doch bereits wenige Jahrzehnte später nahm er diese Aufgabe nicht mehr uneingeschränkt wahr. Und heute macht er die Regeln nicht mehr – jedenfalls nicht offiziell.
Der Sprachpapst und die „Hure Duden“
Wolf Schneider, der sogenannte Sprachpapst, den ich nicht mehr so schätze, seit mir klargeworden ist, dass seine „Meisterwerke deutscher Prosa“, literarische Beispiele für „elegantes, kraftvolles, brillantes Deutsch“, in seinem Standardwerk „Deutsch für Kenner“ ausnahmslos von Männern stammen, und der außerdem die Verwendung von Adjektiven verteufelt, was laut Sprachwissenschaft für Frauen typisch ist (lange Sätze mag er übrigens auch nicht, dieser Satz hätte ihm daher wohl nicht so gefallen), konstatierte schon in den 1980er Jahren: „Der Duden hat kapituliert“ und zitiert, leider ohne genauere Angabe, aus der Zeit von 1985: „Wie stets, wenn etwas nur lange genug unkorrekt gebraucht wird, ist unsere große Hure Duden zur Stelle und kassiert es als korrekt.“
Bei allen Vorbehalten gegenüber dem Sprachpapst: Damit hat er recht bzw. Recht.
„Jeder macht seine eigenen Regeln“ war noch nie eine gute Idee
Menschen, die beruflich mit Sprache zu tun haben, kennen es: Man bessert hunderte (Hunderte) Texte aus, leistet Aufklärung, dass man „Vieles“, „Einiges“ etc. nicht großschreibt, weil es sich um sogenannte Adverbien handelt, kämpft unermüdlich gegen den Verfall unserer Sitten und Kultur an; und dann kapituliert ausgerechnet die höchste Instanz. Alle Bemühungen waren nichtig, jahrelanger Ärger umsonst. Man bleibt mit dem Gefühl zurück, dass eh alles wurscht ist, und der bangen Frage, wann „ohne mir“ und „das Kommentar“ für korrekt erklärt wird. (Regel D 77 im Duden: „Die Wörter viel, wenig […] können großgeschrieben werden, wenn ihr substantivischer Charakter hervorgehoben werden soll.“ bzw. § 58 (5) des Amtlichen Regelwerks der deutschen Rechtschreibung: „Wenn die Schreibenden zum Ausdruck bringen wollen, dass das Zahladjektiv substantivisch gebraucht ist, können sie es nach § 57(1) auch großschreiben.“ Alles klar? Mir auch nicht.)
Es kommt noch schlimmer: Die Legalisierung des Deppenapostrophs Regel D 16 im Duden: Der Apostroph steht zur Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens vor einer Endung: gelegentlich vor dem Genitiv-s, sofern der Personenname mit dem folgenden Substantiv zusammen einen Eigennamen [z.B. Firmennamen] bildet: Willi’s Biomarkt, Andrea’s Kiosk hat mit einem Schlag die Karriere von deutschen Feuilletonisten und Blogbetreibern, die sich einen Spaß daraus machen, über den „Deppenapostroph“, noch besser, „DAS Deppenapostroph“ (die lautesten Kritiker:innen sind nicht immer die Sattelfestesten in Grammatik) herzuziehen, ruiniert.
Warum ist es überhaupt wichtig, was der Duden sagt?
Wolf Schneiders Kritik am Duden muss man heute genau genommen („bei adjektivischer Verwendung auch genaugenommen“) an den Rat für deutsche Rechtschreibung richten, der das Amtliche Regelwerk herausgibt, an dem sich der Duden orientiert. Trotzdem wird als Nachschlagewerk vor allem der Duden verwendet. Der Duden-Verlag ist der wichtigste deutschsprachige Wörterbuchverlag. Seine Wörterbücher werden in Schulen, Redaktionen und Verlagen als Regelwerke akzeptiert.
Wir alle schätzen (hoffentlich) einheitliche Schreibweisen in Texten. Da oft mehrere Schreibweisen erlaubt sind, müssen Redaktionen erst recht wieder eigene Regeln festlegen: Schreiben wir „hunderte“ oder „Hunderte“? Grafik oder Graphik? Viel gepriesen oder vielgepriesen? Vielsagend oder viel sagend? Seit kurzem oder seit Kurzem? Aufwändig oder aufwendig?
Grüße an alle freien Lektorinnen da draußen, die für mehrere Redaktionen oder Verlage arbeiten und sich überall eigene Regeln merken müssen.
Für uns alle wäre es also leichter, wenn eine einzige Schreibweise zulässig wäre und es auch länger als ein paar Jahre dabei bleiben würde.
Empfehlungen statt Regeln
Aber: Ganz im Regen stehen lässt uns die Duden-Redaktion auch nicht. Es gibt schließlich, wenn mehrere Varianten zulässig sind, Empfehlungen! Empfehlungen statt Regeln also. Das wäre ja wie wenn die Bundesregierung es den Bürgerinnen und Bürgern freistellen würde, ob sie sich an Regeln halten oder nicht … Ach ja, richtig, oft genug tut sie das.
Ketschup und Majonäse
Wo nahm das orthographische (orthografische) Chaos seinen Anfang?
Wie meistens, wenn etwas vereinfacht werden soll, endete auch die Rechtschreibreform von 1996 damit, dass sich keiner mehr auskennt. Dass man nun „aufwändig“ statt aufwendig schrieb, wurde damit begründet, dass das Wort ja von „Aufwand“ komme – diejenigen, die es bisher von „aufwenden“ hergeleitet hatten, blieben ratlos zurück.
Dass „Ketchup“ als Ketschup und nicht gleich als Ketschap eingedeutscht wurde, liegt wohl daran, dass das Wort in Teilen Deutschlands tatsächlich als Ketschup ausgesprochen wird. (Diese Schreibweise wurde inzwischen wieder zurückgenommen.)
Reformiert wurden auch die Getrennt- und Zusammenschreibung, was uns zum oben beschriebenen Problem bringt, dass man nicht mehr zwischen (auf dem Sessel) sitzen bleiben und (in der Schule) sitzenbleiben unterscheiden konnte.
Kein Wunder, dass diese neuen Regeln viel Ablehnung hervorriefen. Zahlreiche Medien und Verlage weigerten sich überhaupt, die neuen Regeln anzuwenden, während SchülerInnen und Lehrer*innen umlernen mussten – um dann in etablierten Medien inzwischen nicht mehr korrekte Schreibweisen zu lesen.
Nach vielen weiteren fruchtlosen Diskussionen wurde 2004 der Rat für deutsche Rechtschreibung gegründet und war fortan für die Regelung ebenjener zuständig.
Die „zentrale Instanz in Fragen der Rechtschreibung“ gibt als Ziel unter anderem „Bewahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum“ und „Klärung von Zweifelsfällen der deutschen Rechtschreibung“ an – was irgendwie lustig ist.
Jedenfalls wurden einige der umstrittensten neuen Regelungen zurückgenommen – oder es wurden einfach beide Varianten erlaubt, worauf der Duden schließlich mit einer Empfehlung reagierte.
Aber selbst die Empfehlung hat sich in manchen Fällen geändert.
Eine Büste Konrad Dudens in seiner Geburtsstadt Wesel, Deutschland. (© Niko Alm)
Du oder du? Keine Ahnung, alles egal
Die Älteren unter uns werden sich erinnern: Mit Einführung der neuen Rechtschreibung 1996 galt die Regel, dass man in Briefen „du“ in der Anrede klein schreibt. Das sorgte für viel Verwirrung, denn „Sie“ als Anrede wurde und wird weiterhin großgeschrieben, was einige Leute bis heute nicht verstanden haben.
Aber: Nachdem wir uns das mit dem „du“ endlich fast alle gemerkt haben, gab es still und heimlich eine Reform der Reform. „Liebe Maria, wie Du bestimmt schon gemerkt hast“, schien im Duden von 2004 als korrekt auf; und war auch noch gelb unterlegt, was bedeutet, dass es sich um die Duden-Empfehlung handelt. Habt ihr nicht mitbekommen? Ich auch nicht. Ist aber offenbar egal, schreibt „du“ oder „Du“ wie ihr wollt; in Whatsapp-Nachrichten allerdings, die ja Briefe weitgehend ersetzt haben, finde ich diese Art der Höflichkeit zwar komisch, aber bitte.
I, *, : – Bitte endlich Regeln!
Zum Thema Gendern ist alles gesagt, und das auch schon von jedem. Nur nicht vom Rat für deutsche Rechtschreibung, der will dazu, da es sich um eine „gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe“ handelt, „die nicht mit orthografischen Regeln gelöst werden kann“, keine Vorgabe machen, sondern „die weitere Schreibentwicklung beobachten“. Einerseits verständlich, aber andererseits wäre es in Zeiten, in denen einerseits geschlechtergerechte Sprache verlangt wird und andererseits Parteien, die sich gegen Verbote aussprechen, als erste Amtshandlung bestimmte Schreibweisen verbieten, doch wünschenswert, diese Diskussion nicht parteipolitisch motivierten Kulturkämpfer:innen zu überlassen.
Fazit: Klare Regeln erleichtern das Leben
Allen liberalen Kritiker:innen sei gesagt: Ja, Sprache ist lebendig und verändert sich, in unterschiedlichen Regionen bedeutet ein und derselbe Begriff etwas anderes, auch grammatikalische Variationen gibt es. Daher sind in einigen Fällen mehrere zulässige Varianten bzw. auch Änderungen durchaus sinnvoll. Trotzdem ist die jetzige Situation mit Wischiwaschi-Regelungen und ständigen Änderungen alles andere als ideal. Der Schaden für aktuelle Generationen ist bereits angerichtet – aber vielleicht gelingen ja in Zukunft klarere Regeln.
Die Duden-Zitate stammen aus der 29. Auflage aus dem Jahr 2024. Die jeweils vom Duden empfohlene Schreibung ist gelb hinterlegt.