Wie liberal ist … der Eurovision Song Contest?
Für eingefleischte Eurovision-Fans beginnt der Song Contest bereits im Februar. Nach und nach werden nationale Vorentscheide abgehalten, und die teilnehmenden Länder veröffentlichen ihre Lieder für den Gesangswettbewerb, der traditionell im Mai stattfindet. Laufend laden Fans auf Youtube neue Videos wie „ESC 2023 – My Top 12 (until now)“ oder „Artist name – Country – Reaction“ hoch; auf Reddit werden Gerüchte über Künstler:innen, Songs und die Ausgestaltung der Show ausgetauscht. Und wer sich die Reise leisten kann, sitzt mit Atomuhr und mehreren Geräten bereit, um nach teils Stunden in der digitalen Warteschlange vielleicht doch noch Tickets für die Liveshows zu ergattern.
161 Millionen Menschen haben eingeschaltet, als es 2022 in Turin „Good evening, Europe“ hieß. In Österreich schauen jährlich zwischen einer halben Million und – als Wien 2015 Austragungsort war – 1,9 Millionen Zuschauer:innen zu. Eigentlich paradox, denn trotz der augenscheinlichen Beliebtheit trauen sich nur wenige, sich als Fans zu outen.
Denn der Song Contest hat ein zweifelhaftes Image. Peinliche Kostüme, bestenfalls mittelmäßige Musik, und Österreich schafft es sowieso nie ins Finale. Aber um hier eine Lanze für den ESC zu brechen: Der Wettbewerb bietet viel mehr als Windmaschinen und tanzende Astronauten. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, er ist durch und durch liberal.
Grund 1: Liberal <3 Europe
Liberalismus und Europa sind untrennbar verbunden. Wer liberal ist, sieht den Mehrwert von Freihandel, von freiem Personenverkehr und von internationaler Zusammenarbeit. Zwar hat der ESC nicht ganz so viel zum Frieden in Europa beigetragen wie die EU, die Grundidee bleibt allerdings gleich: Wir sind nicht nur aus den Niederlanden, Spanien, Kroatien oder Österreich, wir haben auch eine gemeinsame Identität. Die schiere Menge an verschiedenen Kulturen und Sprachen ist nicht ausschließlich ein Boost für die Übersetzungsindustrie in Brüssel, sondern macht uns auch reicher. Wir sind verschieden, und trotzdem gehören wir zusammen.
Der ESC sorgt für Kontakt. Wo sonst treffen 40 Nationen aufeinander? In welchem Setting würden wir in den Genuss von isländischer, ukrainischer, estnischer Musik kommen, wenn es den ESC nicht gäbe? Welches Event steht auf europäischer Ebene in solchem Maße für Freiheit, Frieden und Toleranz?
Die Teilnahme von Ländern wie Israel und Australien ist übrigens kein Gegenargument, sondern steht stellvertretend für die Anziehungskraft des Song Contests. Selbst in den USA war man vom Konzept angetan und startete 2022 den Versuch eines American Song Contest. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zelebrieren, das muss nicht an den Grenzen Europas aufhören – reger Austausch und gute internationale Beziehungen sind global genauso liberal wie in Europa.
Grund 2: Ein Symbol für liberale Werte
Wer den ESC abseits der Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mitverfolgt, merkt schnell: Der Wettbewerb ist ein inoffizielles Regenbogenfestival. Wie sehr die queere Community und der ESC verbunden sind, zeigte sich schon bei der Austragung 2009 in Moskau: Das Regime wünschte sich zwar den Glanz und die internationalen Gäste, die mit einem Sieg und einer anschließenden Austragung einhergehen, aber die queere Seite des ESC war in Russland unerwünscht. Man trachtete danach, den ESC soweit wie möglich von seiner regenbogenfarbenen Identität zu trennen, Proteste der Community wurden aktiv unterdrückt.
Zwar will man vonseiten des Veranstalters, der European Broadcasting Union (EBU), nicht politisieren – so recht gelingen will das vor allem im Zusammenhang mit Russland aber nicht. Nach dem Einmarsch Russlands in Georgien 2008 verbot man dem georgischen Rundfunk, beim ESC in Moskau mit dem Lied „We Don’t Wanna Put In“ anzutreten. Etwas subtiler wählte die Ukraine ihre Botschaft nach der Annexion der Krim 2014. Als das Land 2016 mit einem Lied über das Schicksal der Krimtataren im Jahr 1944 antrat, war die Botschaft trotzdem deutlich – die erzwungene Annexion durch Russland ist zu verurteilen. Europa stimmte zu und verhalf der Ukrainerin Jamala zum Sieg.
Die EBU akzeptierte im darauffolgenden Jahr auch die Entscheidung der Ukraine, der russischen ESC-Teilnehmerin Julija Samoilowa kein Visum für den Besuch des ESC auszustellen, da sie zuvor die Krim unter russischer Flagge besucht hatte. Russland zog sich aus dem Wettbewerb zurück, verweigerte die Ausstrahlung und bekam eine Verwarnung. Endgültig Farbe bekennen musste die EBU schließlich im Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Einige Tage nach dem Angriff beschloss die EBU, Russland „angesichts der beispiellosen Krise in der Ukraine“ von der Teilnahme am Song Contest auszuschließen. Wie bekannt ist, stellte sich auch hier Europa fast geschlossen an die Seite der Ukraine und machte das Land erneut zum Sieger.
Empörung über Conchita Wurst, negative Reaktionen auf einen eigenen Beitrag, der weibliche Selbstbestimmung zum Thema hat, öffentliches Nachdenken über einen alternativen Gesangswettbewerb mit familiärem Anstrich: In der Beziehung Russlands mit dem ESC spiegelt sich deutlich wider, wie sehr das autokratische Land mit Werten wie Offenheit und Toleranz hadert. Russland hat mehrmals versucht, den Wettbewerb nach den eigenen Wertvorstellungen zu verbiegen und zu instrumentalisieren. Vergeblich – denn der ESC steht heute mehr denn je für liberale Grundwerte.
Grund 3: Die Macht dem Volk
Conchita Wurst bekam 2014 übrigens selbst aus Russland ganze fünf Punkte – was dem Votingsystem des ESC geschuldet ist. Seit Televoting technisch möglich ist, können die Zuschauer:innen mitbestimmen, wer ins Finale kommt und die Trophäe mit nach Hause nehmen darf.
So können sich nicht nur Bürger:innen in restriktiven Regimes mit ihrer Stimme zu Freiheit, Offenheit und Toleranz bekennen: Der ESC ist im Grunde auch eine Spielart der Pass-egal-Wahl. Wer sich auf dem Staatsgebiet aufhält und über ein Telefon verfügt, kann eine Stimme abgeben. Zugegebenerweise trägt die Stimme allerhöchstens dazu bei zu bestimmen, welches Lied im kommenden Jahr öfter im Radio läuft – die Symbolwirkung darf dabei aber nicht unterschätzt werden. Für einen Abend sind alle Personen, die sich hier aufhalten, Österreicher:innen und dürfen Punkte an die Länder vergeben, die sie am meisten schätzen – ganz egal, ob das an der gesanglichen Qualität oder am sprachlichen bzw. geografischen Wiedererkennungswert liegt.
Dieses liberale Prinzip wird sich ab 2023 nicht mehr auf die teilnehmenden Länder beschränken. Zum ersten Mal in der Geschichte des ESC wird Voting von außerhalb der teilnehmenden Länder ermöglicht. Online vergebene Stimmen aus Ländern, die nicht teilnehmen, werden zu einem Punkteset aggregiert und separat vergeben.
Wer sich hier die Frage nicht verkneifen kann, wo die demokratischen Prinzipien bei der automatischen Finalteilnahme der Big 5 (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien) geblieben sind, hat natürlich einen Punkt. Allerdings zeigt sich hier genauso wie bei fragwürdigen Präsidentschaftskandidaturen: Eine Teilnahme kann man sich erkaufen, die Gunst der Menschen nicht. So ist schon manch ein deutscher, französischer oder britischer Beitrag im Finale auf den letzten Rängen gelandet, teils sogar ganz ohne Punkte – was vielleicht sogar peinlicher ist, als gar nicht erst im Finale zu stehen.
Liberalismus, douze points!
Wer den ESC aus Prinzip ächtet, verpasst also viel. Das Voting-Verhalten der Länder ist eine großartige Lehrschule für Geopolitik, die Beiträge geben einen Einblick in die verschiedenen europäischen Musikszenen, und hin und wieder findet man Lieder, die sich für die Dauerschleife anbieten. Aber auch wer an Euro-Pop nicht interessiert ist, kann sich bei der Nase nehmen: Ganz unabhängig davon, ob der ESC dem eigenen Geschmack entspricht – ohne den Song Contest wäre Europa gespaltener, geschlossener und ein ganzes Stück langweiliger.