Wie liberal ist … die Klaviersonate?
Das Genre der Klaviersonate hat über die Jahrhunderte eine Liberalisierung erfahren. Was hat sich verändert, wie kamen die Veränderungen zustande, und warum waren Beethoven und Liszt eigentlich so brillant? Ein Blick auf zwei musikalische Freiheitskämpfer.
Am häufigsten findet man die Form der Sonate im späten Barock und in der Wiener Klassik, also grob zwischen 1710 und 1825 – und dort besonders häufig auf dem Cembalo und später auf dem Klavier. (Wenngleich man ihre Struktur auch in Sinfonien, Streichquartetten etc. wiederfindet.) Zur Zeit der Wiener Klassik erfuhr die Sonate unter Haydn und Mozart eine Blütezeit und hatte eine relativ starre Form, an die man sich zu halten hatte, wenn man eine Sonate auch wirklich als solche betiteln wollte.
Diese Sonatenform setzt sich aus vier strikt voneinander getrennten Sätzen zusammen. Der erste Satz – in der Regel der umfangreichste und in einem zügigen Tempo – folgte ebenfalls einem festen, viergliedrigen Aufbau:
- Exposition: die Vorstellung des musikalischen Themas
- Durchführung: Das vorgestellte Thema wird verarbeitet und verändert, Entfernung von der Grundtonart
- Reprise: Das Thema kehrt zu seinem Ursprung zurück
- Coda: ein an die Reprise anschließender (kurzer) Schlussteil, der auch tonal zum Abschluss kommt
Anschließend an diesen ersten folgt ein langsamer zweiter Satz mit kontrastierenden Themen, die sich meistens in der Nähe der Grundtonart des Werks befinden. Im dritten Satz fand sich in der Regel ein Tanz, häufig im Dreivierteltakt. Der finale vierte Satz einer Sonate ist ebenfalls in schnellem Tempo und bringt das gesamte Stück zu einem meist jubelnden Abschluss.
Zwar hat Mozart auch für die damalige Zeit eine ungewöhnlich düstere, fast manische Sonate in a-Moll geschrieben, für die großen Dramen wurde dann aber doch meist zur Oper oder der Sinfonie gegriffen. Weitreichende Änderungen der Klaviersonate, ihrer Form und deren Stellenwert sind dann nach Mozarts Tod untrennbar mit dem Namen Ludwig van Beethoven verbunden.
Gegen (fast) jede Konvention: Beethoven, der unvermeidliche Revolutionär
Beethovens 32 Klaviersonaten sind ein Meilenstein der Musikgeschichte. Hans von Bülow – streng genommen ein Schüler des Schülers von Beethovens Schüler – bezeichnete sie tief im 19. Jahrhundert als das „neue Testament“ der Klavierliteratur. Viele Bücher wurden über diese 32 Meisterwerke geschrieben, viele werden noch geschrieben werden.
Spätestens in seiner 8. Sonate, der Pathétique, wird klar, wie revolutionär Beethoven ist: Ein derart langsamer, düsterer Beginn – das war damals unerhört. Rund drei Jahre später nimmt sich Beethoven mit der Mondscheinsonate – auch wenn er sie nie so nannte – noch mehr Freiheiten: „Sonata quasi una fantasia“, so der richtige Name, gibt Aufschluss darüber, was Beethoven 1801 unter einer Sonate verstand. Wie eine Fantasie, also freier in ihrer Form – weg mit den Konventionen. Er beginnt die Sonate nicht mit einem schnellen ersten Satz, sondern mit dem langsamen, eigentlich dem zweiten Satz.
Beethoven geht in diesem Stück wie so häufig den Weg der Extreme: Der erste Satz hat eine finstere Melancholie, der dritte Satz ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Der heitere zweite Satz wurde von Franz Liszt treffend als eine „Blume zwischen zwei Abgründen“ beschrieben. In der Mondscheinsonate zeigt sich außerdem, dass Beethoven den Spannungsbogen seiner Werke vom ersten in den finalen Satz verlagert. Mit dieser Verlagerung in den Schlusssatz sorgt Beethoven für eine ganz neue emotionale Fallhöhe: Klaviersonaten sind nicht mehr nur bloße Unterhaltung für den Adel, bei Beethoven sind sie hochpersönliche Tagebucheinträge eines verzweifelten Menschen, der die ganze Palette menschlicher Emotionen musikalisch zum Ausdruck bringt. Auch aus diesem Grund musste sich Beethoven mehr und mehr Freiraum nehmen und mit den Konventionen der damaligen Zeit brechen, wenngleich Musiker dieser Zeit abhängig von Mäzenen und der Gunst der politischen Elite blieben.
Schaut man sich Beethovens Spätwerk an, kommt man nicht an der Hammerklaviersonate vorbei. Mit diesem rund 45-minütigen (!) Werk geht Beethoven, mittlerweile völlig ertaubt, über alles hinaus, was man bisher kannte. Die Hammerklaviersonate ist ein Kaleidoskop der menschlichen Emotionen. Sie ist hysterisch, lustig, kauzig, wild, dramatisch, todtraurig und am Ende dann doch triumphal. Es sollten aber viele Jahre vergehen, bis sie das erste Mal vor Publikum zu hören war – galt sie doch zur Zeit ihrer Veröffentlichung als schlichtweg unspielbar.
Beethoven hat mit seinen 32 Klaviersonaten Außergewöhnliches geschaffen. Er hat die Gattung einer radikalen Liberalisierung unterzogen und die Grenzen, insbesondere mit seinen späteren Werken, neu ausgelotet: Statt der bis dato üblichen drei oder vier Sätze findet man in Beethovens Sonaten alles zwischen zwei und vier Sätzen, verschiedenste Stimmungen, starke Kontraste und völlig neue harmonische Pfade. Das hat auch nachfolgende Musiker beeinflusst: Der großartige Franz Schubert, sein Leben lang in Beethovens Schatten stehend, sagte einmal voller Selbstzweifel:
„Heimlich im Stillen hoffe ich wohl selbst noch etwas aus mir machen zu können, aber wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“
Franz Liszt und die perfekte Sonate
Franz Liszt ging bei Beethovens Schüler Carl Czerny in die Lehre und hat sich deshalb von klein auf mit dem Schaffen des großen Meisters vertraut gemacht. Noch dazu hat er dank Czernys Pädagogik eine einwandfreie Technik mit auf den Weg bekommen. Dadurch – und inspiriert durch den ‚Teufelsgeiger‘ Niccolò Paganini – wurde aus Franz Liszt der (mutmaßlich) größte Pianist aller Zeiten – der folgerichtig der Erste war, der die unspielbare Hammerklaviersonate aufführte.
Und wie viele Klaviersonaten beinhaltet das über 1.000 Werke umfassende Œuvre dieses Genies, das Beethoven wie kaum ein anderer verehrte? Eine einzige. Die h-Moll Sonate. Ein rund 30-minütiges Meisterwerk der Romantik und in ihrer Form die perfekte Sonate. Auch Liszt hat den Schatten des Titans Beethoven bis an sein Lebensende gespürt, was ihn jedoch nicht daran hinderte, mindestens genauso viele Grenzen wie sein Vorbild zu sprengen. In vielerlei Hinsicht war Liszt sogar noch radikaler als Beethoven. Er greift Impressionismus, Expressionismus und Atonalität vor, hat nebenbei die Kirchen- und Orchestermusik revolutioniert und auf dem Klavier sozusagen alles zertrümmert, was damals State of the Art war.
Die h-Moll-Sonate ist deshalb so außergewöhnlich, weil sie auf brillante Art und Weise ein Werk ist, das man aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann, die beide Sinn ergeben:
- Die Sonate ist ein einziger Satz ununterbrochener Musik, der dem Schema der Sonatensatzform folgt: Exposition, Durchführung, Reprise, Coda.
- Die Sonate besitzt aber auch vier voneinander zu unterscheidende „Sätze“: 1. Allegro energico, 2. Adagio sostenuto, 3. Fugato, 4. Presto/Prestissimo. Sie gehen nahtlos ineinander über.
Einfach ausgedrückt, hat Liszt also eine Sonate innerhalb einer Sonate komponiert: Der erste, schnelle Satz ist die Exposition, gefolgt von einem langsamen zweiten Satz, der als Durchführung fungiert. Im Anschluss kommt ein diabolisches Fugato (die Reprise des Anfangsthemas) und zum Schluss eine rasante Coda. Für 30 Minuten Musik kommt Liszt außerdem mit erstaunlich wenig musikalischen Themen aus – er schickt sie schlichtweg durch alle möglichen Veränderungen, kontrastiert sie und verschmilzt sie. Das war eine seiner größten Stärken und sorgt dafür, dass die h-Moll-Sonate ein unheimlich stimmiges Werk ist, das sich nicht über seine Spieldauer in zu vielen Seitenthemen verliert.
Darüber hinaus lässt das Werk zahlreiche außermusikalische Interpretationen zu. Manche hören in den verschiedenen Themen Faust, Gretchen und Mephisto, andere meinen, biblische Themen wie die Kreuzigung zu hören. Was auch immer davon stimmt, die Idee der Sonate innerhalb einer Sonate war und ist revolutionär und geht weit über das hinaus, was Liszts Zeitgenossen wie Chopin, Brahms oder Schumann in diesem Genre gewagt haben. Von Wagner ganz zu schweigen. Aber wie wurde das Werk damals aufgenommen? Mit nichts anderem als Ablehnung. Clara Schumann meinte: „Das ist nur noch blinder Lärm – kein gesunder Gedanke mehr, alles verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da nicht mehr herauszufinden!“ Heute sehen wir das glücklicherweise anders. Und Liszt selbst? „Ich kann warten“, hat er immer gesagt, wenn seine Werke von Zeitgenossen nicht verstanden wurden.
„Das Konzert bin ich“
Beethoven und Liszt haben der Klaviersonate beide auf ihre Art entscheidende Freiheiten verschafft und die Grenzen neu ausgelotet. Man kann heute auf viele verschiedene Arten Sonaten schreiben und muss sich nicht mehr an das starre drei- oder viersätzige Modell halten. Befasst man sich mit Klaviermusik, führt weder ein Weg an Beethovens 32 Sonaten noch an Liszts h-Moll-Sonate vorbei.
Liszt war es auch, der die Emanzipation des Solokünstlers entscheidend beeinflusst hat: „Le concert, c’est moi“ sagte er einst in Anlehnung an Ludwig XIV. Vorbei waren die Tage, an denen Musiker nur für die Abendunterhaltung in Adelskreisen zuständig waren. Vorbei die Tage der finanziellen und politischen Abhängigkeiten. Liszt war ein Superstar, bei dessen Konzerten Leute in Ohnmacht fielen und Frauen sich um seine aufgerauchten Zigarren stritten – und konnte sich daher entsprechend viele Freiheiten erlauben. Er spielte unzählige Benefizkonzerte, um Spenden für Bedürftige zu sammeln, besuchte Gefängnisse und Heilanstalten und war in Zeiten von unzähligen Revolutionen und Machtkämpfen ein echter Europäer. Durch all diese Facetten erreichte er eben nicht nur die musikalisch interessierte Oberschicht.
Nach Liszts Verständnis war es seine Aufgabe, Musik allen Menschen zugänglich zu machen. Somit hat er nicht nur aus musiktheoretischer Sicht neue Freiheiten geschaffen, sondern Musik auch gesellschaftlich entscheidend liberalisiert.