Wie liberal ist … Emmanuel Macron?
Der französische Präsident steht aufgrund seiner Reformvorhaben zuletzt wieder stark in der Kritik. Ein Autoritärer, der der französischen Bevölkerung seine neoliberale Agenda aufdrückt, meinen die einen. Eine proeuropäische Zukunftshoffnung, sagen die anderen. Doch was steckt wirklich hinter dem Politiker Emmanuel Macron?
Frankreich ist seit jeher von einer etatistischen Politik geprägt; also der Vorstellung, gesellschaftliche oder ökonomische Probleme können nur durch staatliches Handeln gelöst werden. Die Staatsquote, die das Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt wiedergibt, lag in Frankreich im Jahr 2022 dementsprechend bei 58,47 Prozent. Im internationalen Vergleich steht die Republik somit an neunter Stelle und ist in diesem Bereich Spitzenreiterin innerhalb der EU.
Dieser Denkschule folgte auch die französische Corona-Politik – vor allem, weil Frankreich eines der am stärksten betroffenen Länder des Virus zu Beginn der Pandemie war. So hatte es im gesamteuropäischen Vergleich sehr strikte Regelungen, die insbesondere in der Anfangszeit der Pandemie von Macron alleine, also ohne Mitwirkung der Nationalversammlung, erlassen wurden. Über viele Monate galten Ausgangssperren ab 18 Uhr, und die Bewegungsfreiheit der Bürger:innen wurde auf einen minimalen Radius von einem Kilometer beschränkt. Eine Politik, die die individuelle Freiheit als höchstes Gut zur Maxime erhebt, sieht definitiv anders aus.
Protest gegen umstrittene Reformen
Macron sieht es aber eigentlich als seinen politischen Auftrag, Frankreich wieder „an die Spitze Europas“ und damit auf Augenhöhe mit Deutschland heranzuführen. Dafür erkennt er die Notwendigkeit an innerstaatlichen Reformen, die Frankreich an EU-Standards annähert. So soll eine Pensionsreform, die unter anderem die Erhöhung des Pensionsantrittsalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht, den altersstrukturellen Veränderungen entgegenwirken und das Entstehen eines Pensionslochs im Budget hintanhalten. Ein klassisches liberales Vorhaben also.
Dass Proteste tief in der französischen Kultur verankert sind, weiß man schon aus der Geschichte. Insbesondere das Antasten des Pensionssystems ist in Frankreich eine heilige Kuh. Schon 2010 taten sich die acht größten Gewerkschaften zusammen und legten das Land lahm, als der damalige Präsident Nicolas Sarkozy die Pensionsgrenze von 60 auf 62 Jahre erhöhte. Mehrere Reformvorhaben sind bereits an der Streiklust bestimmter Interessenverbände gescheitert. Im Jahr 2006 beispielsweise erzielten die damaligen Proteste die Zurücknahme des Gesetzesvorhabens von Premierminister Dominique de Villepin, das eine Lockerung des Kündigungsschutzes für junge Arbeitende vorsah.
Auch Macron musste bereits klein beigegeben: Als er die höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe einführte, legte die Protestbewegung der Gelbwesten über mehrere Monate zwischenzeitlich das Land lahm. Die Erkenntnis, dass die Architektur dieser Steuer vor allem Menschen in sozial prekären Lagen traf, die auf ihr Auto angewiesen sind, zwang Macron zu politischen Zugeständnissen.
Macron, ein Autoritärer?
Im Zuge der bereits erwähnten Pensionsreform machte Macron vom umstrittenen Notverordnungsrecht des Artikels 49.3 der französischen Verfassung Gebrauch. Diese Befugnis, die von Charles de Gaulle nach dem Zweiten Weltkrieg implementiert wurde, ermächtigt den französischen Präsidenten im Wesentlichen dazu, das Parlament zu umgehen – auf den ersten Blick also ein undemokratisches Instrument. Viele sehen sich damit im Vorwurf, Macron sei ein Autoritärer, bestätigt.
Allerdings haben viele gaullistische, konservative und sozialistische Präsidenten in der 5. Republik dieses Mittel immer wieder eingesetzt, konkret 99 Mal. Zudem muss man die Ermächtigung aus verfassungsrechtsgeschichtlicher Perspektive betrachten: Die durch ein Präsidialsystem gekennzeichnete Verfassung sieht nun mal weitreichende Kompetenzen für den französischen Präsidenten vor. Das französische Staatsoberhaupt ist befugt, den:die Premierminister:in und die Regierung zu ernennen, die Abgeordnetenkammer aufzulösen, Neuwahlen anzuordnen oder eine Volksabstimmung durchzuführen. Alle wesentlichen politischen Entscheidungen, vor allem in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten, gehen über seinen Schreibtisch im Élysée-Palast. Außerdem ist er oberster Befehlshaber der Streitkräfte und hat Verfügungsgewalt über die französischen Atomwaffen.
Gegenüber dem Parlament hingegen ist der Präsident für seine Politik nicht rechenschaftspflichtig. Das Parlament kann Macron nicht einfach so abwählen – vielmehr könnte er nur wegen Unzurechnungsfähigkeit oder Landesverrats seines Amtes enthoben werden.
Auch wenn die Verwendung des besagten Artikels formell-rechtsstaatlich – aufgrund der Eigenheit der französischen Verfassung – in Ordnung geht, hat sie dennoch einen mehr als unangenehmen Beigeschmack, wenn man bedenkt, dass Macron nach der letzten Wahl zur Nationalversammlung den Verlust der Mehrheit im Parlament hinnehmen musste. Seitdem hat er eine demokratisch legitimierte Mehrheit gegen sich, gegen deren Willen er sich durchsetzt und die er nicht zu überzeugen vermochte.
Der europäische Visionär
Emmanuel Macron ist einer der wenigen, die die Reform der EU als Überlebensfrage anerkennen. Diese Vision treibt ihn an und zieht sich durch sein politisches Wirken. Schon in seiner im Jahr 2017 präsentierten „Initiative für ein neues Europa“ schlug er eine gemeinsame Verteidigungsstrategie samt organisatorisch-zusammengeführtem Militär vor, finanziert durch ein europäisches Verteidigungsbudget.
2019 adressierte er einen Brief an alle Bürger:innen Europas und konstatierte die Beeinflussung von Wahlen durch fremde Mächte. Um Wahlen vor Hackerangriffen und Manipulationen zu schützen, schlug er die Gründung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie vor.
Dass ihm die Erneuerung der Europäischen Union ein Anliegen ist, stellte er auch 2022 bei seiner Grundsatzrede vor dem EU-Parlament im Rahmen des französischen Ratsvorsitzes unter Beweis, als er wieder auf seine bereits formulierten Ideen referenzierte. Darüber hinaus forderte er eine Frauenquote auf EU-Ebene in Unternehmensvorständen und einen EU-weiten Mindestlohn, was wohl vielen Liberalen sauer aufstößt.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Mit seinem Plan, die EU sicherheitsstrategisch autonom von den USA zu machen, stößt Macron aber durchaus auch auf Kritik. Sein letzter Besuch in China trieb einen Keil in die transatlantische Beziehung und echauffierte insbesondere auch Mitgliedstaaten aus Ostmittel- und Nordeuropa. Eine klassisch-liberale Außenpolitik sieht wohl anders aus und stellt eher eine Vertiefung des transatlantischen Bündnisses in den Mittelpunkt.
Der Ambivalente
Ob Emmanuel Macron nun liberal ist oder nicht, lässt sich ob der Eigenheit seiner Politik nur schwer sagen. Vielmehr gilt es die Paradoxie seines politischen Handelns zu erkennen: einerseits der wirtschaftsliberale Reformer in einem von einem starken Staat geprägten Frankreich, der von seiner rechtlichen Stellung als Präsident Gebrauch macht; andererseits der Verfechter des „Unions-Etatismus“ im Brüssel’schen Binnenmarkt, dessen Herz blau und mit gelben Sternen verziert ist.
Schlussendlich bleibt eine umstrittene Persönlichkeit, die jedenfalls in der Geschichte Frankreichs und vor allem Europas einen großen Fußabdruck hinterlassen wird.