Wie liberal ist … Wien?
Diese Frage ist keine Provokation, auch wenn sie im Angesicht von 78 Jahren durchgehend sozialdemokratischer Stadtherrschaft in der Zweiten Republik und der historischen – und zur Folklore gewordenen – Epoche des „roten Wien“, sowie des „kommunalen Sozialismus“ des Karl Lueger als solche erscheinen mag. Denn unglaublich, aber wahr: Wien kann tatsächlich auf ein liberales Erbe verweisen. Um dieses zu finden, muss man aber – wenn man von der derzeitigen sozialliberalen „Fortschrittskoalition“ absieht – in den Geschichtsbüchern etwas weiter zurückblättern.
Revolution 1848: „Ja dürfen’s denn des?“
Vor 175 Jahren brach in Wien die bürgerliche Revolution aus. Im Hof des niederösterreichischen Landhauses verlas der ungarische Arzt Adolf Fischhof die erste freie Rede der Habsburger-Monarchie. Er kritisierte die „verpestete Luft […], die unsere Nerven lähmt, unseren Geistesflug bannt“ und betonte „dass die Zukunft der Dynastie an die Verbrüderung der verschiedenen Völker der Monarchie gebunden ist, und diese Verbrüderung […] mit Achtung der bestehenden Nationalitäten nur der Kitt der Konstitutionalität zustande bringt“.
Eine Verfassung sollte her, die Gewährung von Grund- und Freiheitsrechten. Die politische Mitbestimmung eines Bürgertums, das in den letzten Jahrzehnten unter anderem durch seine Bildung an ökonomischer und sozialer Bedeutung gewonnen hatte – und dem das repressive Klima des Vormärz mit seinem Zensur- und Spitzelapparat ein Dorn im Auge war.
Der Versuch, diese Forderungen als Petition zu übermitteln, löste bei den Herrschenden Panik aus. Die von Erzherzog Albrecht geführten Truppen, die das Volk unter Kontrolle bringen sollten, schossen in die Menge, mehrere Menschen starben. Der Staatskanzler Metternich – dem man die Unterdrückung der bürgerlichen Rechte zuschrieb – setzte sich nach England ab. Zwei Tage später versprach Kaiser Ferdinand I., der „Gütige“, die Abschaffung der Zensur und die Verabschiedung einer Verfassung.
Verfassungsentwurf und Neoabsolutismus
Noch im März ließ der Kaiser von Franz Pillersdorf einen Verfassungsentwurf gestalten, der allerdings aus zwei Gründen von den „1848ern“ als Provokation erlebt wurde: Einerseits wurde er ohne Mitwirkung einer Volksvertretung gestaltet und bereits im April desselben Jahres erlassen, andererseits ging er den Revolutionär:innen auch inhaltlich nicht weit genug. Weitere Aufstände in Wien und die Flucht Ferdinands I. nach Innsbruck waren die Folge, bereits im Juli 1848 wurde die oktroyierte Märzverfassung komplett zurückgenommen. Die Aufstände – die nicht nur in Wien stattfanden, sondern auch in anderen Teilen der Monarchie – wurden in weiterer Folge von kaiserlichen Truppen niedergeschlagen.
Der im Juli einberufene konstituierende Reichstag – die Geburtsstunde des österreichischen Parlamentarismus – beschloss die Bauernbefreiung von der Erbuntertänigkeit. Im Oktober wurde die Wiener Revolution schließlich nach einer letzten Erhebung niedergeschlagen. Im Dezember dankte der oft als „führungsschwach“ bezeichnete Kaiser Ferdinand zugunsten seines Neffen Franz Joseph I. ab. Es folgten die Phase der Restauration und die Phase des Neoabsolutismus: einer Herrschaft ohne Verfassung und Parlament, die bis 1860 andauern sollte. Das bedeutete auch die Wiedereinführung der Zensur und den Abschluss des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl, also kirchliche Aufsicht über die Schulen sowie die Ehegesetze.
Von Bürgerministerien und Bürgermeistern
Es schien also außer der Bauernbefreiung von der Revolution nach deren Niederschlagung, Restauration und Neoabsolutismus unter Franz Joseph I. nicht viel übrig zu bleiben. Oder etwa doch? Denn der sich wandelnde Verwaltungsstaat brauchte immer mehr juristisch gebildete Beamte – und fand diese ausgerechnet im akademisch gebildeten Bürgertum.
Auf diese Weise fanden sich viele, die mit den Werten der Revolution sympathisierten, in einflussreichen Stellen der Habsburger Bürokratie. Die Universitätsfreiheit etwa, die unter Unterrichtsminister Leo Thun-Hohenstein während des Neoabsolutismus umgesetzt wurde, ist ein Beispiel für die zaghafte Liberalisierung eines scheinbar „ungefährlichen“ Politikbereichs. Weitere Liberalisierungen folgten nach dem Ende des Neoabsolutismus 1867 mit der Dezemberverfassung, die die Gleichheit vor dem Gesetz, die Personenfreizügigkeit, Eigentumsrechte und fundamentale bürgerliche Freiheiten festschrieb, und auch die Gleichberechtigung aller Völker der Habsburgermonarchie garantierte.
Bis 1870 regierte zudem das erste „Bürgerministerium“ – ein Kabinett von liberalen Politikern, das wichtige Gesetze verabschiedete, die bis heute nachwirken und vor allem das Verhältnis von Staat und Kirche neu regelten, bildungspolitische Verbesserungen brachte und den Verwaltungsgerichtshof einführte. Wien war – als Reichs-, Haupt- und Residenzstadt – demnach schlicht Schau- und Kampfplatz der politischen und gesellschaftlichen Liberalisierung. Bis 1895 wurde jedoch auch die Stadt selbst von liberalen Bürgermeistern regiert.
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Liberale Kommunalpolitik
Die Ära der liberalen Wiener Bürgermeister begann 1861 mit Andreas Zelinka und führte über Cajetan Felder, Julius Newald, Eduard Uhl und Johann Prix bis Raimund Grübl, der 1895 zurücktrat. Der bekannteste von diesen ist zweifellos Felder, der 1868 bis 1878 die Stadt regierte: Seine Regierungszeit ist tatsächlich bis heute spür- und sichtbar.
Seiner Amtszeit entsprangen etwa der Bau der I. Wiener Hochquellwasserleitung, die Donauregulierung, die Schaffung des Wiener Zentralfriedhofs sowie der Grundstein des Rathauses an der Wiener Ringstraße ebenso wie die Wiener Weltausstellung von 1873. Die Relevanz dieser Infrastrukturprojekte war seinen Zeitgenossen vermutlich verständlicher, als sie uns heute erscheinen mögen. Doch tatsächlich bedeutete die Versorgung der Stadt mit qualitätsvollem Trinkwasser und die Entlastung der (damaligen) Vorstadtfriedhöfe auch eine Verbesserung der hygienischen Situation der Großstadt – und damit mehr Lebensqualität für ihre Bevölkerung.
Der Zentralfriedhof war übrigens aufgrund seines religionsübergreifenden Charakters darüber hinaus auch eine fast provokant progressive Einrichtung, die Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit – und auch jenen ohne Konfession – eine letzte Ruhestätte auf demselben Friedhof ermöglichte, wenn sie auch nach eigenen Abteilungen getrennt war.
Liberalismus aus einer vergessenen Zeit
Der Liberalismus ist aus den österreichischen Geschichtsbüchern größtenteils verschwunden – trotzdem hat er das politische System Österreichs und das Gesicht Wiens nachhaltig geprägt und ging aus dem Bedürfnis des Bürgertums hervor, der obrigkeitsstaatlichen Bevormundung mündiger Bürger:innen, die über Bildung und Mittel verfügten, ein Ende zu machen.
Diese Gleichsetzung von Mündigkeit mit Bildung und Vermögen war jedoch auch seine große historische Schwäche, weil Frauen und Nicht-Besitzende mehrheitlich ausgeschlossen waren. Mit der fortschreitenden Demokratisierung und dem Aufkommen von Massenparteien verlor der politische Liberalismus vorerst an Relevanz. Teile seines historischen Trägermilieus – der Beamtenschaft – verlor er schließlich an seine christlich-sozialen Nachfolger.
Zwei Lehren können aus dieser historischen Epoche jedoch gezogen werden: erstens, dass die Feststellung, dass es in Österreich keine liberale „Tradition“ gäbe, falsch ist. Und zweitens, dass eine Politik, die den Bürger:innen Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung zur Verfügung stellt, auch erfolgreich sein kann.