Will be Wilders – eine Analyse zur Wahl in den Niederlanden
Was sich in Österreich erst in den Umfragen abzeichnet, ist in den Niederlanden am 22. November 2023 bittere Wahrheit geworden – ein Rechtspopulist wird stimmenstärkste Kraft im Parlament. Geert Wilders, international vor allem für seine Frisur und seine extrem rechten Positionen bekannt, gehört genauso wie der scheidende Premier Mark Rutte zur alten Garde – er war schon rechtspopulistisch, bevor diese Geisteshaltung salonfähig war.
Anders als Mark Rutte, der zur Wahl nicht mehr antrat, wird Geert Wilders der niederländischen Politik erhalten bleiben und sie stärker dominieren als bisher. Mit 37 Sitzen (ca. 25 Prozent) fährt die Partij voor de Vrijheid (PVV) ihr bestes Ergebnis seit der Gründung ein. Die rechtsliberale Partei von Langzeitpremier Rutte, die VVD, verliert unter Führung der neuen Vorsitzenden Dilan Yeşilgöz zehn ihrer 34 Sitze. Noch schlechter sieht es für die Koalitionspartner der letzten Regierung aus. Die linksliberalen Demokraten66 fallen von 24 auf 9 Sitze, die Christdemokraten (CDA) schrumpfen von 15 auf 5 Sitze, und die Christenunion kann drei ihrer fünf Sitze halten.
Wie konnte das passieren?
Das gesamtgesellschaftliche Gefühl, dass die Regierung nichts oder die falschen Dinge tut, ist nicht nur den Österreicher:innen vorbehalten. In den Niederlanden brodelt es auf einigen Gebieten.
Stickstoffkrise
Ein verbindliches Urteil verpflichtete die niederländische Regierung dazu, den Stickstoffausstoß zu begrenzen – die intensive Land- und Viehwirtschaft gepaart mit Verkehr und Bautätigkeit hatten zu untragbaren Stickstoffemissionen geführt. Die Reduktion der Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 auf 100 km/h ging ohne gröbere Probleme über die Bühne. Die Stimmung kippte erst, als Viehbauern ins Visier der Reduktionspolitik kamen.
Die Bäuerinnen und Bauern ließen die plötzliche Kehrtwende nach Jahrzehnten von politischen Anreizen, ihre Höfe zu vergrößern und intensiver zu wirtschaften, nicht auf sich sitzen, und reagierten mit großangelegten Protesten – Traktoren auf der Autobahn, Flaggen kopfüber am Straßenrand, griffige Slogans („How dairy you“) und, jawohl, eine eigene politische Protestbewegung, die Bauern-Bürger-Bewegung.
Wohnungskrise
Der Wohnungsmarkt ist ein weiteres Sorgenkind der niederländischen Politik. Es gibt zwar in der Theorie genug Wohnraum, dieser ist allerdings schlecht verteilt. Häuser in der Peripherie stehen leer, und ältere Paare und Alleinstehende wohnen auf zu vielen Quadratmetern, während junge Menschen es sich nicht leisten können, von zu Hause auszuziehen, oder in den Ballungsräumen einen stets größeren Prozentsatz ihres Einkommens für Miete oder Kreditraten hinblättern.
Die Politik hatte in den vorangegangenen Jahren voll und ganz auf den privaten Wohnungsmarkt gesetzt und den gemeinnützigen Wohnbausektor schlechtergestellt – in der Folge fehlt heute besonders Wohnraum für kleine und mittlere Einkommen.
Kinderbetreuungskrise
Auch im niederländischen Sozialsystem krachte es ordentlich. Infolge eines Sozialbetrugsskandals Anfang der 2010er Jahre wurden die Kriterien, was Betrug bei den Zuschüssen für Kinderbetreuung konstituiert, empfindlich verschärft. Ein einziger Fehler in der Dokumentation – auch wenn dieser von der Kinderbetreuungseinrichtung verursacht wurde – führte dazu, dass Eltern als Sozialbetrüger betrachtet wurden und die gesamte Zuschusssumme zurückzahlen mussten. Über Jahre hinweg sammelten sich Fälle an, tausende Eltern waren betroffen und durch die unnachgiebige Regelung teils stark verschuldet. Nach Bekanntwerden der Problematik kündigte die Regierung eine Reform des Zuschusssystems an – doch die Koalition implodierte, bevor eine Lösung gefunden werden konnte.
Asylkrise
Das heißeste Streitthema heißt aber auch in den Niederlanden Asyl. Wohnraum ist knapp: Das Land hat die Hälfte der Fläche Österreichs, aber eine doppelt so große Einwohnerzahl.
Besonders faktenbasiert ist die Migrationspanik dort allerdings nicht – 2022 wurden in den Niederlanden 35.000 Asylanträge gestellt, verglichen mit 112.000 Asylanträgen in Österreich. In den letzten zehn Jahren wurden in den Niederlanden 120.000 Schutztitel vergeben, das entspricht 0,7 Prozent der niederländischen Bevölkerung. Trotzdem entstand das Gefühl, die Situation nicht bewältigen zu können: wegen unzureichender Finanzierung der Grundversorgung von neu angekommenen Geflüchteten. Im einzigen Auffangzentrum für neu angekommene Menschen reichte der Platz nicht mehr, die Öffnung eines zweiten Zentrums scheiterte. Und schließlich starb ein Baby, das mit seiner Mutter in einer Notunterkunft schlafen musste, weil im Gebäude schlicht kein Platz mehr war.
Eine Lösung musste her, und die VVD unter Mark Rutte sah diese in einer Beschränkung der Möglichkeit auf Familienzusammenführung. Die Koalition bekam Risse – die Christdemokraten waren gesprächsbereit, aber die Christenunion und die linksliberalen Demokraten66 wollten am menschenrechtlichen Fundament der Familienzusammenführung nicht rütteln. Im Juli 2023 bot Rutte dem König die Entlassung der Regierung an. Rutte würde auch für eine Wiederwahl nicht zur Verfügung stehen.
Das Wahldebakel 2023
Rutte hatte mit seinem Kurs auf die Stimmen der rechten Flanke spekuliert – und die rechte Flanke dankte es ihm, indem sie eine Partei wählte, die einen noch härteren Kurs versprach. Inwieweit das Ergebnis anders aussehen hätte können, wäre Rutte Spitzenkandidat gewesen, ist schwer abzuschätzen. Die Wahl einer türkischstämmigen Spitzenkandidatin dürfte die rechte Flanke aber nicht unbedingt von der knallharten Asylpolitik der VVD überzeugt haben.
D66 war 2021 mit dem Slogan „Wir lassen alle frei, aber niemanden fallen“ einer der großen Wahlsieger. 2023 konnte D66 nur 27 Prozent ihres Ergebnisses aus 2021 halten. 31 Prozent wurden abtrünnig und wanderten zur neuen Allianz der Grünen und der Partei der Arbeit mit dem früheren EU-Kommissar Frans Timmermans als Spitzenkandidaten. 12 Prozent der ehemaligen D66-Wähler:innen setzten ihr Kreuz bei NSC, einer Abspaltung der Christdemokraten von Pieter Omtzigt, der in der Kinderbetreuungszuschussaffäre wichtige Aufklärungsarbeit geleistet hatte. D66s Momentum von 2021 war verpufft; interne Skandale, gebrochene Versprechen und die Unfähigkeit, für Verfehlungen Ruttes klare Worte zu finden, kosteten D66 fast zwei Drittel ihrer Sitze im Parlament.
Die liberalen Parteien VVD und D66, die bei der Wahl 2021 noch Platz 1 und 2 stellten, müssen sich 2023 mit Platz 3 und 5 begnügen. Die Allianz aus Grünen und Arbeiterpartei landet mit 25 Sitzen (16,67 Prozent) auf dem zweiten Platz, der „Neue Soziale Vertrag“ (NSC) von Pieter Omtzigt schafft aus dem Stand 20 Sitze (13,3 Prozent) und somit den vierten Platz.
Wilders wildeste Träume
Es ist ein Sieg für die nostalgischen Nationalisten, die von einer Vergangenheit schwärmen, die nie existiert hat – und für eine Zukunft kämpfen, die hoffentlich nie existieren wird. Anders als 2017, wo die PVV mit einem Wahlprogramm von einer Seite antrat, verrät Wilders uns dieses Jahr auf 46 Seiten, was sein Plan für die Niederlande ist. Ein Auszug:
- Ein kompletter Asylstopp
- Kriminellen wird die niederländische Staatsbürgerschaft entzogen, und sie werden abgeschoben
- Nexit-Referendum
- Kein freier Personenverkehr mehr innerhalb der EU – Arbeitsvisa für EU-Bürger:innen notwendig
- Verbot von Moscheen, Koran und Kopftüchern
- Verbot von Doppelstaatsbürgerschaften
- Klimagesetz zurückziehen, keine CO2-Reduktion mehr
- Steuern auf fossile Brennstoffe senken
- Kein Ausstieg aus dem Gas
- Entschuldigungen für den Sklavenhandel werden zurückgezogen
- Kunst- und Kulturförderungen abschaffen
Die Niederlande aus Wilders wildesten Träumen sind eine Festung, gefüllt mit blonden, blauäugigen Niederländerinnen und Niederländern, frei von woken Veranstaltungen, von Schuldgefühlen über Sklaverei und fossilen Lebensstil und von Einfluss von außen. Eine Insel der Seligen, ein nostalgisch-populistischer Wunschtraum – denn weder das Klima noch der Arbeitsmarkt werden sich von Wilders’ Glauben an Weltverschwörungen und an die nationale Selbstversorgungsfähigkeit der autochthonen Bevölkerung beeindrucken lassen.
Ein Blick in die Kristallkugel
Die Probe aufs Exempel muss wahrscheinlich (noch) nicht gemacht werden. Der rettende Umstand ist in diesem Fall die extrem diverse Parteienlandschaft im niederländischen Parlament. Statt fünf Parteien wie in Österreich sitzen in der „Zweiten Kammer“ 15 Parteien. Wilders hat zwar offensichtlich einen gewissen Hang zur Autokratie – das zeigt sich schon daran, dass er das einzige Mitglied seiner eigenen Partei und somit unangefochtener Alleinherrscher der PVV ist –, aber er ist von einer absoluten Mehrheit auch nach seinem Sieg noch weit entfernt.
Und wichtiger noch: Die PVV steht mit ihren Ansichten ziemlich allein auf weiter Flur da. Forum voor Democratie und JA21, zwei andere rechtspopulistische Parteien, haben bei dieser Wahl verloren und kommen gemeinsam nur auf vier Sitze. Eine Koalition mit VVD und NSC wäre möglich – aber unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher ist eine Koalition aus Grünen/Arbeiterpartei, VVD, D66 und NSC, die zusammen auf 78 von 150 Sitzen kommen – wenn die VVD sich mit dem Linkskurs der Allianz aus Grünen und Arbeiterpartei abfinden kann. Man darf sich jedenfalls auf eine lange und möglicherweise unergiebige Koalitionsverhandlungsperiode einstellen – schließlich dauerten bereits die letzten, weitaus weniger kontroversen Koalitionsverhandlungen schon 299 Tage.
Was können wir aus dem Ergebnis lernen?
In Österreich stehen zwischen uns und der Möglichkeit eines ähnlichen Ergebnisses nur noch zehn Monate und eine Schlammschlacht von Wahlkampf. Die Zeiten, in denen Umfragen bezogen auf FPÖ-Wählerschaft nach oben korrigiert werden mussten, da sich Blau-Wähler:innen nicht öffentlich bekennen wollten, sind vorbei – inzwischen wird die FPÖ in Umfragen eher systematisch überschätzt. Den Vorsprung auf SPÖ und ÖVP wird aber wohl auch ein Schätzungsfehler nicht ausgleichen.
Ein Patentrezept gegen Populisten gibt es nicht. Was uns die Niederlande allerdings zeigen: Talking points von Rechtsaußen übernehmen, kann ganz schon nach hinten losgehen. Warum das Imitat nehmen, wenn man auch das Original wählen kann? Das sollte zumindest der ÖVP eine Warnung sein.