90 Jahre Februarkämpfe: Der Schatten des Bürgerkriegs
Heuer jährt sich der österreichische Bürgerkrieg zum 90. Mal – und das offizielle Österreich hat keinerlei Erinnerungsveranstaltungen geplant. Wieso kann die Republik sich nicht auf eine allgemein gültige Erzählung dieses Vorfalls einigen, und was sagt das über die politische Gegenwart aus? Der Versuch einer Einordnung.
Die Fakten sind wohl allgemein bekannt: Am 12. Februar 1934 schossen Österreicher:innen aufeinander. Der Beginn des österreichischen Bürgerkriegs zwischen der „christlichsozialen“ Bundesregierung unter Engelbert Dollfuß und dem bewaffneten Flügel der Sozialdemokratie sollte mit dem Sieg der Bundesregierung enden: Neun Kämpfer wurden standrechtlich gehängt, es gab rund 350 Tote und tausende Verletzte, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wurde verboten. Der bereits seit der Ausschaltung des Parlaments autoritär regierende Kanzler Dollfuß konnte durch die Ausschaltung der Opposition damit die Demokratie in Österreich gänzlich abschaffen und den Austrofaschismus mit der Maiverfassung 1934 etablieren.
Die Zweite Republik, geprägt von Koalitionen zwischen SPÖ und ÖVP, tat sich nach 1945 immer schwer mit dem Rückblick auf die Februarkämpfe. Vonseiten der SPÖ wurde und wird ihre Rolle in der Verteidigung der Republik betont, die ÖVP konnte sich lange nicht mit dem Begriff Austrofaschismus abfinden und verwendete den von Dollfuß selbstgewählten Begriff „Ständestaat“ – und machte den Kanzler auch zum „ersten Opfer der Nationalsozialisten“, da dieser im Juliputsch 1934 von Nazis im Bundeskanzleramt erschossen wurde. Eine allgemeine Erzählung über das, was von der Ausschaltung des Parlaments durch Dollfuß 1933 bis zum Anschluss an Nazi-Deutschland 1938 passiert war, gab und gibt es nicht.
90 Jahre Ringen um die Deutungshoheit
Vor zehn Jahren, unter einer rot-schwarzen Bundesregierung, schien ein großer Schritt in der Aufarbeitung der Februarkämpfe gemacht worden zu sein. Erstmals seit fünfzig Jahren gedachten SPÖ und ÖVP gemeinsam der Toten: Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Michael Spindelegger legten einen Kranz beim Mahnmal der Opfer für ein freies Österreich (1934 bis 1945) am Wiener Zentralfriedhof nieder. Spindelegger sprach von einer „Mahnung für die Zukunft“: „Wir gedenken heute aller Opfer, die für ein freies Österreich gekämpft haben.“ Der damalige SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder betonte, dass ganz bewusst die Gräben zwischen beiden Parteien überbrückt würden. Und sein ÖVP-Gegenüber Reinhold Lopatka würdigte die Aufarbeitung, welche an der Sache und nicht an Emotionen orientiert sei. Vor 2014 hatte es nur einmal ein gemeinsames Gedenken der zwei Parteien gegeben: 1964 haben der damalige ÖVP-Bundeskanzler Alfons Gorbach und SPÖ-Parteichef Bruno Pittermann einen Kranz am Mahnmal im Zentralfriedhof niedergelegt.
Zehn Jahre später, zum 90. Jahrestag des Bürgerkriegs, ist alles anders. Die SPÖ wird im ehemaligen Anhaltelager Wöllersdorf der Austrofaschist:innen und vor dem Goethehof in Wien, wo sich massive Kämpfe abspielten, Gedenkveranstaltungen abhalten. Doch ein gemeinsames Erinnern an die Opfer wie 2014 gibt es nicht, auch das Parlament hat keinerlei Veranstaltung geplant.
Es scheint, als ob die Debatte um die Februarkämpfe wieder in parteiische Interpretation zurückverschoben wurde. Die SPÖ erinnert daran, die ÖVP möchte es am liebsten verschweigen, die anderen Parteien – historisch nicht direkt betroffen – haben keinen wirklichen Anknüpfungspunkt. Dabei wäre das Bestreben nach einer gemeinsamen Erzählung, ähnlich wie über den Anschluss und die Verantwortung Österreichs ob des Holocausts, gerade in Zeiten der Krise als eine Mahnung enorm wichtig.
Mahnung und Appell
Ohne die Erinnerung können wir unsere Demokratie nicht retten.
So beschrieb die deutsche FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher die Rolle von kollektiver Erinnerung in einem Staat. Sie, die Enkelin einer Jüdin, deren Doktorvater sie im Zweiten Weltkrieg vor der Gestapo schützen musste, berief sich auf den Holocaust und die Notwendigkeit, dass Deutschland sich seiner Geschichte bewusst sein müsse, um als Demokratie bestehen und wachsen zu können.
Dieser Grundsatz ist wohl für jede Gesellschaft wahr, die in ihrer Geschichte einen Kulturbruch hat – eben auch Österreich. Es hatte bis 1991 gedauert, bis der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky mit der Legende des „ersten Opfers“ des Nazi-Reichs aufräumte und eine Mitverantwortung für den Holocaust einräumte. Doch bis heute gibt es einen solchen Konsens nicht für das Ende der Demokratie in Österreich in den Jahren 1933/1934. Der Bürgerkrieg 1934 kann als letzter Versuch des Widerstands gegen die autoritäre Herrschaft der Christlich-Sozialen unter Dollfuß gesehen werden, doch das offizielle Österreich und damit auch die Gesellschaft, sprechen das öffentlich nicht aus.
Gerade in einer Zeit, in der politische Konfrontation – in der gesamten westlichen Welt – schärfer wird und die politischen Extreme stärker werden, ist eine Rückbesinnung auf die Werte der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dringend notwendig. Wir sehen seit der Corona-Pandemie ein Sinken des Vertrauens in Institutionen und ein Wachsen „alternativer Erzählungen“. Und ein Lehrbeispiel, eine Mahnung davor, was das in Österreichs eigener Geschichte verursachen kann, wird nicht wahrgenommen, sondern fast schon in die Sphäre der folkloristischen, parteipolitischen Erinnerung verschoben.
Damit wird der Lektion der Ausschaltung des Parlaments, der Februarkämpfe und der Maiverfassung von 1934 jede Ernsthaftigkeit geraubt, die aber notwendig wäre, um uns alle daran zu erinnern, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht ewig gültig und stabil sind, wenn sie nicht gepflegt und verteidigt werden. Es ist hoch an der Zeit, diese Periode Österreichs als das zu sehen, was sie ist – eine Mahnung und ein Appell.