Die Fragilität unserer Demokratie
Wie werden demokratische Staaten zu autoritären Systemen? Diese Frage ist seit der Schaffung von demokratischen Regierungsformen ein Thema – bis heute. Selten sind solche Überlegungen wohl dringender als in unser jetzigen Zeit, in der Demokratien von innen heraus durch Vertrauensverlust und autoritäre Populist:innen bedroht werden. Ein Buch zweier Harvard-Professoren gibt eine Anleitung, wie man die Warnhinweise erkennen – und was man tun kann.
Ein Putsch oder eine Revolution: So rutschten im 20. Jahrhundert die meisten Demokratien ins Diktatorische ab. Doch es gibt auch einen anderen Weg. Die beiden Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben in ihrem in den USA vieldiskutierten Bestseller How Democracies Die zahlreiche Beispiele versammelt, die einen viel gefährlicheren, weil weniger spürbaren Weg der Entdemokratisierung aufzeigen: die schleichende Aushöhlung von innen, die selbst gefestigte, etablierte Demokratien treffen kann. Die Wahl von Autokrat:innen, der schleichende Vertrauensverlust in Institutionen und das Dämonisieren von politischen Konkurrent:innen sind Beispiele dafür.
Schleichende Erosion der Demokratie
„The erosion of democracy is almost unnoticable for most citizens“, warnen deshalb Levitsky und Ziblatt. „Today, democracies can die not only by the hands of military leaders but by presidents or prime ministers […] who undermine the very process that put them into power.“ Levitsky und Ziblatt analysieren mögliche Stationen auf dem Weg ins Autoritäre, und man fühlt sich beunruhigend oft an die österreichische Politik erinnert.
Die Hoffnung bürgerlicher Parteien, eine:n Demagog:in in einer Koalition „bändigen“ zu können, funktioniert nicht, wie die Geschichte zeigt. Das bekannteste Beispiel dafür ist Deutschland während der Weimarer Republik: Die Zusammenarbeit der Bürgerlichen und Konservativen konnten den Aufstieg Hitlers und die Abschaffung der Demokratie nämlich nicht aufhalten.
Im Gegenteil, warnen die Autoren, so eine Zusammenarbeit gab und gibt populistischen und autoritären Parteien mehr Glaubwürdigkeit und Gravitas – die ersehnte Entzauberung stellt sich nicht ein. Und von dieser erhöhten Position innerhalb einer Regierung ist es für Feinde der Demokratie auch viel einfacher, Misstrauen in Institutionen des Staates zu säen und gleichzeitig Vertraute in zentrale Positionen der Verwaltung zu setzen. Die Demokratie verkümmert damit von innen und auch von außen. Der nächste Schritt ist dann dann das Abarbeiten an den Spielregeln der Demokratie – der Verfassung.
Die Regeln der Verfassung
Die beiden Politologen bringen historische und aktuelle Beispiele wie Hugo Chávez in Venezuela und Viktor Orbán in Ungarn, sie nennen die Philippinen, Polen oder die Türkei und das Deutschland der 1930er Jahre dafür, wie diese Spielregeln Stück für Stück gebrochen wurden. Solide, gute Verfassungen sind immens wichtig für den Schutz der Demokratie, doch ebenso wichtig sind die ungeschriebenen Regeln und Normen der politischen Auseinandersetzung. Levitsky und Ziblatt vergleichen das mit einem Basketballspiel in einem Hinterhof, das nach anderen Spielregeln abläuft als NBA-Spiele, aber trotzdem funktioniert, solange sich alle daran halten. Weil sie ja morgen weiterspielen wollen – auch wenn man heute verloren hat. Doch wenn plötzlich Akteur:innen mitmischen, die gar nicht nach den vorhandenen Regeln weiterspielen wollen, wird es gefährlich.
Zu diesen Regeln gehört beispielsweise, politische Gegner:innen zwar scharf zu kritisieren, ihnen aber nicht die grundsätzliche Legitimität, am politischen Prozess teilzunehmen, abzusprechen. Dazu gehört auch, Schiedsrichter:innen-artige Institutionen wie Höchstgerichte nicht infrage zu stellen. Aber auch die Presse, Interessenvertretungen und die Geheimdienste.
Als heimische:r Leser:in wird man hier schnell an das Vorgehen der FPÖ in der türkis-blauen Koalition erinnert: Sie hat all diese Dinge getan. Sie hat versucht, den Verfassungsgerichtshof, den Verfassungsschutz und auch den ORF systematisch zu desavouieren. „If someone wants to manipulate a game of football, they first try to influence the referee“, kommentieren die Autoren so eine Strategie.
Die Versuchung des Autoritarismus
Besonders gefährlich ist es, wenn etablierte „Mainstream-Parteien“ in Krisen nicht das Wohl des Landes im Auge haben, also „staatstragend“ agieren, sondern Extremist:innen eine Chance geben – in ihren eigenen Reihen wie als Koalitionspartner. Levitsky und Ziblatt als Forscher in den USA fokussieren hier natürlich stark auf die USA, über Strecken liest sich ihr Buch vor allem als Aufarbeitung und Warnung vor Donald Trump und seinen klar autoritären Tendenzen.
Denn Trump konnte 2016 Spitzenkandidat der Republicans werden, weil die Partei nach acht Jahren Obama in einem internen Richtungsstreit keine klare Linie im Umgang mit People of Color als Wähler:innengruppe finden konnte. Der begnadete Populist Trump nutzte dieses Vakuum aus und konnte, als er immer besser bei den parteiinternen Vorwahlen abschnitt, auch immer mehr Unterstützung von etablierten Vertreter:innen der Partei einheimsen. Damit gewann er Ansehen und in den Augen der republikanischen Wähler:innen auch quasi den „Segen“ des Parteiestablishments. Die internen „Checks and Balances“ der Republicans hatten versagt, deren Spitzenvertreter:innen mussten Trump und seinen Führungsanspruch akzeptieren, mit allen Folgen, bis hin zum Sturm auf das Kapitol.
Genau diese Checks and Balances, betonen die Autoren, sollten in staatstragenden Parteien eigentlich den Aufstieg von problematischen Kandidat:innen verhindern. Doch zu oft ist die Versuchung zu groß, diese aufstrebenden Politiker:innen, die bei den Wähler:innen beliebt sind, zu akzeptieren. Man meint, deren Charisma nutzen und problematische Tendenzen schon kontrollieren zu können – der gleiche Trugschluss wie bei Koalitionen mit autoritären Parteien.
Auf Österreich umgelegt, lässt sich also fragen: War es ein Fehler, dass die Führung der ÖVP zuerst Sebastian Kurz mit seinen an die FPÖ angelehnten Parolen an die Macht kommen und dann auch noch eine Koalition mit der FPÖ eingehen ließ? Levitsky und Ziblatt stellen diese Frage nicht, ihr Buch wurde vor Kurz’ Machtübernahme geschrieben. Doch nach ihren Thesen muss die Antwort „Ja“ lauten. Das Buch bringt aber ein anderes Beispiel aus der jüngeren politischen Geschichte der Alpenrepublik, um zu zeigen, welche wichtige Wächterfunktion Mainstream-Parteien haben. Sie loben jene hochrangigen Stimmen aus der ÖVP, die sich in der überparteilichen Wahlbewegung für Bundespräsident Alexander Van der Bellen engagierten, um den Extremisten Norbert Hofer zu verhindern.
Dass Demokratien fragil sind und täglich gepflegt und geschützt werden müssen, ist bekannt. Wie viele verschiedene Wege es gibt, sie zu stürzen oder zu unterwandern, aber wohl weniger. How Democracies Die ist immer noch eine beunruhigende Lektüre, die in Erinnerung ruft, wie sehr wir auf Demokratie, Rechtsstaat und einen entsprechend funktionierenden öffentlichen Diskurs aufpassen müssen. Wie verfaulen demokratische Staaten von innen heraus und werden zu autoritären Systemen?