(Arbeits-)Zeitgefühl im Lauf der Geschichte
Seit Jahrhunderten messen wir Arbeitsleistung in Zeit. Und nach wie vor steht eine hohe Anzahl an Arbeitsstunden weit verbreitet für eine hohe Produktivität von Mitarbeitenden. Ist das noch zeitgemäß?
In der vorindustriellen Zeit wurden Waren zumeist in kleineren Familienbetrieben, Werkstätten oder überhaupt zu Hause produziert. Der Übergang zwischen Arbeitszeit und Freizeit war vor diesem Hintergrund fließend, Familie, persönliche Kontakte und Arbeit haben sich vermischt. Auch von Arbeitsteilung war größtenteils noch keine Rede. Ein Produkt wurde von einer einzigen Arbeitskraft hergestellt. Es war daher nur selten erforderlich, die Arbeitszeiten von unterschiedlichen Mitarbeitenden aufeinander abzustimmen. Was zählte, war nicht die Zeit, die man am Arbeitsplatz verbrachte, sondern die Erfüllung der jeweiligen Aufgaben bzw. die Fertigstellung des jeweiligen Produkts.
Erst mit der industriellen Revolution gewann das Konzept Arbeitszeit an Bedeutung. Die Innovation der Arbeitsteilung erforderte eine Synchronisation der Arbeitszeiten von Mitarbeitenden und eine verlässliche Anwesenheit aller beteiligten Akteur:innen. Arbeit fand ab diesem Zeitpunkt zu festen Zeiten, an festen Orten und unter permanenter Überwachung am Arbeitsplatz statt. Der soziale Austausch verlagerte sich in die klar von der Arbeitszeit getrennte Freizeit, die aber aufgrund der im 19. Jahrhundert gängigen 70-Stunden-Wochen ohne Wochenenden auf ein Minimum reduziert war. Ausgehend von der Massenproduktion schwappte dieses neue, industrielle Verständnis von Arbeit auf viele weitere Bereiche über.
Mit jedem technologischen Fortschritt und dem damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft änderten sich die Rahmenbedingungen von Arbeit von da an laufend. Der Bedarf an erforderlichen manuellen Tätigkeiten ging zurück, die Arbeitszeiten verkürzten sich in Richtung 5-Tage- bzw. 40-Stunden-Woche. Das industrielle Grundverständnis von Arbeit blieb jedoch weiterhin erhalten. Auch im 20. Jahrhundert schien die Messung von Arbeitsleistung in Arbeitszeit und eine strikte Trennung von Arbeit und Freizeit weiterhin in Stein gemeißelt.
Und nicht nur das: Ebendieses Konzept setzt sich auch im 21. Jahrhundert weiter durch. Noch immer wachen die meisten Arbeitgeber:innen über die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeitenden und kontrollieren deren Büroanwesenheiten und Homeoffice-Tage. Gehälter, Überstundenpauschalen und Ähnliches werden, wie schon zu Beginn der industriellen Revolution, in Stunden abgegolten. Lange Arbeitszeiten und örtliche Präsenz erhöhen auch heute noch die Karrierechancen.
(Arbeits)zeitenwende: Corona-Pandemie als Wendepunkt
Spätestens seit der Corona-Pandemie haben sich die Rahmenbedingungen neuerlich grundlegend verändert. Teleworking ist in einigen Bereichen längst fixer Bestandteil der Arbeitswelt geworden. Viele leisten ihre Arbeitsstunden dadurch flexibler und nicht mehr im allseits bekannten 9-to-5 Rahmen. Die Übergänge zwischen Freizeit und Arbeitszeit wurden dadurch fließender, und der Fokus von Arbeitnehmer:innen – in nicht allen, aber vielen Bereichen – richtete sich wieder vermehrt auf die Erfüllung der jeweiligen Aufgaben bzw. die Fertigstellung des jeweiligen Produkts, anstatt auf die Anzahl der abgearbeiteten Stunden.
Trotz dieser Umstellung kam es bei der Messung von Produktivität zu keinem Umdenken. Nach wie vor gilt: Wer länger da ist bzw. wer länger für seine Arbeit braucht, gewinnt. Denn noch immer werden in vielen Branchen nicht nur Gehälter in Arbeitsstunden bezahlt, sondern – entgegen jeglichem Effizienzdenken – auch Honorarnoten oder Rechnungen an Endkund:innen anhand geleisteter Arbeitszeiten der Mitarbeitenden berechnet. Für viele Arbeitgeber:innen bleibt die Erfassung von Arbeitszeit daher der wichtigste Bestandteil der neuerdings auch auf den digitalen Raum ausgeweiteten und perfektionierten Überwachung von Arbeit. Eine kürzlich durchgeführte IFES-Studie der Arbeiterkammer ergab, dass für 56 Prozent aller befragten Arbeitnehmer:innen die Dokumentationspflichten mit der Digitalisierung zugenommen haben. Mit diesem Fokus auf Arbeitsstunden sind Unternehmen nicht allein.
Auch die Politik verharrt in ihrem erlernten Verständnis: Eine hohe Anzahl an geleisteten Arbeitsstunden ist gut, eine niedrige schlecht – und das, obwohl die aktuelle Datenlage deutlich zeigt, dass die Anzahl an Stunden, die jemand am Schreibtisch verbringt, kaum Aussagekraft darüber hat, wie produktiv die jeweilige Person ist. Sogar ganz im Gegenteil: Länder, in denen weniger Stunden pro Woche gearbeitet wird, schneiden auf dem Produktivitätsindex besser ab als Länder, in denen besonders viele Stunden gearbeitet wird. Abgesehen davon sinken die geleisteten Arbeitsstunden in Österreich seit mehreren Jahrhunderten stetig, während die Produktivität kontinuierlich steigt.
(Arbeits-)Zeitumstellung: Produktivitätsmessung der Zukunft
Vor diesem Hintergrund und auch in Anbetracht der nächsten technologischen Revolution, die durch die stetige Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz unweigerlich vor der Tür steht: Wäre es nicht längst an der Zeit, unser industrielles Verständnis von Arbeit abzulegen und neue Zugänge zur Vermessung von Arbeit zu entwickeln?