Big in Japan: Ein verrückter Arbeitsmarkt
Ob beim Streben nach Effizienz, industriellen Prozessen oder bei der technologischen Modernisierung: Japan war schon in den 80er Jahren einen Schritt weiter. Und auch heute erlaubt es einen Blick auf Europas mögliche Zukunft der Arbeit.
In der gesamten OECD lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2022 bei 4,9 Prozent – das ist die niedrigste seit vielen Jahrzehnten. Vom dritten bis zum vierten Quartal des Jahres hat die reiche Welt etwa eine Million Arbeitsplätze geschaffen, was dem langfristigen Durchschnitt entspricht. In der Hälfte der OECD-Länder – einschließlich Kanada, Frankreich und Deutschland – gab es noch nie einen höheren Anteil an Menschen im erwerbsfähigen Alter, die tatsächlich einen Job haben.
Eine Welt voller Jobs
Ein Blick nach Japan zeigt, wie eine Welt voller Jobs aussieht: Es gibt sehr viele davon, aber nicht alle sind sinnvoll. Urlauber:innen berichten erstaunt von Kaufhäusern, in denen elegant gekleidete Frauen bei der Benutzung von Aufzügen helfen; von Bars in Tokio, wo vier Personen ein Getränk vorbereiten. Von Männern mit fluoreszierenden Stöcken, die an Baustellen stehen und Vorbeigehenden freundlich vermitteln, dass die Baustellen zu meiden sind.
Gleichzeitig wird der Fachkräftemangel in Österreich und auch in Japan immer größer. Das liegt zum Teil auch an einem „Mismatch“ – also daran, dass Anforderungen und Qualifikationen am Arbeitsmarkt nicht zusammenpassen. Japans Antwort darauf: Wenn Arbeitskräfte nicht mehr in den Arbeitsmarkt passen, passt man eben den Arbeitsmarkt an.
Zum Teil war das immer schon so, aber letztgenanntes Beschäftigungswunder deutet auf einen Wandel in den westlichen Volkswirtschaften hin. Ein solcher Wandel zeichnet sich in Japan schon länger ab: Die japanische Kultur, die Verbundenheit mit dem Unternehmen und vielleicht auch das große Pflichtbewusstsein verunmöglichen es Chefs, ihre Angestellten zu entlassen, selbst wenn sie wenig oder gar nichts Sinnvolles zu tun haben. Außerdem gehen immer mehr Menschen in den Ruhestand, Unternehmen kämpfen um neue Mitarbeiter:innen und zögern daher, Angestellte zu entlassen – auch dann, wenn diese die nötige Arbeit gar nicht erfüllen können.
Die Folge ist eine Arbeitslosenquote, die selbst in Rezessionen kaum ansteigt. In den letzten 30 Jahren hat sich die Arbeitslosenquote in Japan nur um 3,5 Prozentpunkte verändert, verglichen mit 9,5 Punkten im Durchschnitt der reichen Länder.
Unproduktive Arbeitsplätze bremsen den Fortschritt
Doch diese Art der Arbeit hat einen besonders großen Nachteil: Wenn Arbeitnehmer:innen schlecht funktionierende Unternehmen nicht verlassen, können sie nicht in innovative Unternehmen eintreten, also in Unternehmen, die das Wachstum vorantreiben. Immer mehr Daten zeigen, dass das Produktivitätswachstum der reichen Welt aktuell außergewöhnlich schwach ist.
Andererseits ist klar: Phasen der Arbeitslosigkeit können einen schrecklichen menschlichen Tribut fordern, und das gilt es zu verhindern. Länder, in denen die Arbeitslosigkeit weniger schwankt, neigen auch zu milderen Rezessionen. Österreich war im Jahr 2008 und danach ein gutes Beispiel dafür: Wenn der Arbeitsmarkt nicht zusammenbricht, können die Menschen weiter Geld ausgeben, auch wenn sich das Wachstum verlangsamt. Das Halten unproduktiver Arbeiternehmer:innen ist da aber wohl nicht der ideale Weg und aktuell auch nur möglich, weil während der COVID-Krise öffentliche Gelder in die Unternehmen geströmt sind. Unternehmen in der reichen Welt sitzen immer noch auf Geldbergen, die etwa um ein Drittel höher sind als vor der Pandemie.
Schätzungen zufolge „fehlen“ etwa 1,5 Prozent der Erwerbsbevölkerung im Vergleich zu den Trends vor der Pandemie. Frühpensionierungen und eine alternde Bevölkerung erklären einen Teil des Defizits. COVID hat die Menschen möglicherweise dazu gedrängt, ihre Prioritäten neu zu bewerten und sie dazu veranlasst auszusteigen. Darüber, wohin genau alle Arbeitskräfte verschwunden sind, weiß man aber überraschend wenig. In den USA scheint es so, als ob es sowohl an der Veränderung der Zahl der Personen am Arbeitsmarkt als auch an der Veränderung der Arbeitsstunden pro Person liegt. Phänomene, die man als „Great Resignation“ und „Quiet Quitting“ bezeichnet.
Was auch immer die Erklärung sein mag: Die sinkende Beteiligung hat die Pläne einiger Unternehmen durcheinandergebracht. Viele Unternehmen haben Mitarbeiter:innen gekündigt, als die Pandemie ausbrach, nur um 2021 Schwierigkeiten zu haben, sie wieder einzustellen. In diesem Jahr erreichten die offenen Stellen in der OECD mit 30 Millionen ein Allzeithoch.
Unternehmen unter Druck
So oder so, ob mit dem japanischen Weg oder mit steigender Arbeitslosigkeit: Die Schmerzen am Arbeitsmarkt können am Ende nur hinausgezögert werden. In einigen vergangenen Rezessionen stieg die Arbeitslosigkeit erst einige Zeit nach dem Beginn des BIP-Rückgangs entscheidend an. Aber Echtzeit-Daten lassen kaum Anzeichen dafür erkennen, dass die Arbeitslosigkeit bald zunehmen wird.
Eine aktuelle Umfrage des Personaldienstleisters Manpower Group zeigt, dass Unternehmen in den meisten Ländern immer noch ehrgeizige Einstellungspläne haben. Angesichts der Widerstandsfähigkeit des Arbeitsmarktes selbst und angesichts steigender Zinsen könnten die Zentralbanken versucht sein, die Geldpolitik noch schneller zu straffen. Weitere Tariferhöhungen oder ein weiterer Energieschock könnten Arbeitgeber über den Rand drängen und sie zwingen, Personal abzubauen. Der Personalbindungsdruck könnte jedoch zu einem Strukturproblem werden.
Japan zeigt einen Blick in die Zukunft
Japan ist nur ein Beispiel dafür, wie die Zukunft des Arbeitsmarkts aussehen könnte: Einerseits besteht ein Mangel, aber damit Menschen beschäftigt bleiben, erfindet man unproduktive Jobs. Der Schlüssel ist, die arbeitenden Menschen wieder auf produktivere Jobs vorzubereiten. Aber es muss uns klar sein, dass wir genau dort enden werden, wo Japan nun steht, wenn wir kein tragfähiges (Um-)Schulungskonzept etablieren, um Arbeitskräfte immer wieder fit zu halten und sie damit für produktive Arbeit attraktiv zu halten.
Gleichzeitig ist es wichtig, dass sich Menschen auch im Laufe ihrer Erwerbskarriere neu erfinden, sich weiterentwickeln und umorientieren können. Dann ist es auch naheliegender, länger zu arbeiten.