Bildungspolitik: Eine Frage der Größenordnung
Österreichs Bildungssystem steht oft in der Kritik. In internationalen Vergleichsstudien erreichen wir nur mittelmäßige Ergebnisse. Ein Viertel der Jugendlichen kann am Ende der Schulpflicht nicht sinnerfassend lesen. Unternehmen klagen darüber, dass sie offene Lehrstellen nicht besetzen können, weil Bewerber:innen die einfachsten Rechnungen nicht bewältigen oder andere Voraussetzungen nicht erfüllen. Und die Erfolgschancen in der Bildungslaufbahn hängen ganz wesentlich vom familiären Hintergrund ab. All das ist seit langem bekannt.
Doch während die Schulen unter ständig neuen Vorgaben ächzen und Lehrer:innen das Wort Reform schon nicht mehr hören können, herrscht in der breiteren Öffentlichkeit der Eindruck, dass nichts weitergeht, ja dass alle Probleme von Generation zu Generation ungelöst weitergereicht werden.
Warum ist das so? Fehlt es in der Bildungspolitik an den richtigen Konzepten? Mitnichten! Es liegt alles auf dem Tisch, und alles wird angepackt.
Angepackt? Nun ja, das auch wieder nicht. Angestupst. Angehaucht. Das Wohl und Weh der Bildungspolitik ist vor allem eine Frage der Größenordnung. Drei Beispiele verdeutlichen, wie das in der Praxis aussieht.
Beispiel 1: Chancengerechtigkeit, aber nur ein bisschen
Bildung wird in Österreich „vererbt“, das ist bekannt und anerkannt. Dem Bildungssystem gelingt es nicht, den Startnachteil jener Kinder auszugleichen, deren Eltern sie weniger fördern können oder wollen als andere. Oft verstärkt es die Ungleichheit sogar noch, indem Kindern aus „bildungsfernen“ Familien selbst dann weniger zugetraut und ermöglicht wird, wenn sie trotz schwierigerer Umstände nachweislich die gleichen Leistungen erbringen wie etwa Kinder von Akademiker:innen.
Der Chancenindex als Maßstab für die Finanzierung der Schulen wäre ein mächtiges Instrument, um mehr Chancengerechtigkeit herzustellen. Das Prinzip: Jene Schulen, die von besonders vielen Kindern aus ärmeren oder „bildungsfernen“ Familien besucht werden – also Familien, in denen kein Elternteil einen über die Pflichtschule hinausgehenden Bildungsabschluss erworben hat – erhalten mehr personelle oder finanzielle Ressourcen. Das hilft dabei, die größeren Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen und ihre Schüler:innen besonders zu fördern.
Und tatsächlich: Österreichs Bildungspolitik hat den Chancenindex bereits eingeführt und für alle 6.000 Schulen den Bildungs- und sozioökonomischen Hintergrund der Eltern ausgewertet. Das Projekt, das aus dem Index abgeleitet wurde, lautet „100 Schulen, 1.000 Chancen“. Es soll Schulen mit besonderen Herausforderungen unterstützen und ist mit 15 Millionen Euro im Jahr dotiert.
Klingt nach viel? 15 Millionen Euro sind 1,4 Promille (!) des gesamten Bildungsbudgets von rund 11 Milliarden Euro. Dass mit einem derart kleinen Hebel bisher keine große Veränderung erzielt wurde, überrascht wenig. Das Projekt taugt nicht einmal zu Forschungszwecken – denn durch seine Limitierung auf zwei Jahre nutzen es die Schulen vor allem, um Sachmittel zu erwerben. Für zwei Jahre Personal aufbauen und dann wieder vor die Tür zu setzen, ist schließlich wenig sinnvoll.
Apropos Personal: Besonders relevant für sozial exponierte Schulen sind Schulsozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen, das sogenannte psychosoziale Supportpersonal. Ein Bereich, in dem Österreich im internationalen Vergleich weit zurückliegt. Auch da ist die Bundesregierung zwar nicht untätig, scheitert aber an den Größenordnungen: Die Zahl der Schulpsycholog:innen wurde anlässlich der Corona-Pandemie um 20 Prozent aufgestockt – ausgehend von einem derart niedrigen Niveau, dass auch nach der Aufstockung über 5.000 Schüler:innen auf einen Psychologen oder eine Psychologin kommen. Ähnlich sind die Größenordnungen bei den Sozialarbeiter:innen.
Beispiel 2: Elementarbildung, aber nicht zu viel
Ein noch größerer Hebel als der Chancenindex wäre ein flächendeckendes, qualitativ hochwertiges elementarpädagogisches Angebot, also Kindergärten und Krippen mit kleinen Gruppen und viel individueller Aufmerksamkeit und Förderung durch hochqualifiziertes pädagogisches Personal. (Bei Krippen sind übrigens je nach Bundesland auch Krabbelstuben, Spielgruppen, Kindertagesstätten oder Kleinkindbetreuung inkludiert.)
Die ersten Lebensjahre sind die prägendsten, da sind sich Wissenschaft und Hausverstand einig. In dieser Zeit entwickeln sich unsere Wahrnehmung der Welt, zahlreiche Fähigkeiten und Fertigkeiten, die grundlegende Sprachkompetenz und – besonders wichtig – unsere Lernmotivation und Arbeitshaltung. Das Gehirn hält im Kindergartenalter die größte Zahl an Synapsen bereit, die nach dem Prinzip „Use it or lose it“ durch vielfältige Anregungen genutzt werden oder verloren gehen.
In diesen Lebensjahren spielen die Eltern eine größere Rolle für die Entwicklung als in jeder späteren Lebensphase. Das bedeutet auch: Ihr Fehlen als Vorbild und Förderer – wenn sie diese Rolle nicht so gut ausfüllen können oder wollen, wie es für die kindliche Entwicklung wünschenswert wäre – hinterlässt in dieser Phase große Lücken. Unbestritten ist auch, dass die Elementarpädagogik es in der Hand hat, familiäre Defizite zu kompensieren. Von den Lernmöglichkeiten und Bildungsanregungen im Kindergarten profitieren alle Kinder, aber ganz besonders jene, die zu Hause in einem weniger förderlichen Umfeld aufwachsen. Das hat auch Österreichs Politik erkannt: Vom Kindergarten als „erster Bildungseinrichtung“ sprechen alle Parteien.
Doch sind Kindergärten und -krippen in Stadt und Land flächendeckend und kostenlos verfügbar? Und ist die Qualität, insbesondere der Fachkraft-Kind-Schlüssel, so, dass jedes Kind mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen und in seinen Talenten gefördert werden kann? Weit gefehlt!
Während manche Bundesländer in kleinen Schritten Verbesserungen und andere auch Verschlechterungen umsetzen, heftet sich der Bund eine „Kindergartenmilliarde“ auf die Fahnen. Schauen wir uns auch hier die Größenordnungen an: Die „Milliarde“ sind eigentlich 0,2 Milliarden Euro, denn sie wird auf fünf Jahre gestreckt. Österreich gibt jährlich 0,7 Prozent seines BIP für die Elementarbildung aus, das Vorbildland Norwegen 2 Prozent. Die Differenz von 1,3 Prozentpunkten entspricht am österreichischen BIP gemessen 5,2 Milliarden. 0,2 von notwendigen 5,2 Milliarden Euro für ein vorbildliches Kinderbildungs- und -betreuungsangebot sind also abgedeckt. Der Berg hat gekreißt und ein Mäuschen geboren.
Beispiel 3: Schulautonomie, aber nicht so richtig
Doch nicht immer geht es „nur“ ums Geld. Wir wissen, dass in Österreichs Schulwesen vieles ineffizient ist. Erstens wegen eines aufgeblasenen, detailreichen Schulrechts mit zahllosen, kaum überblickbaren Gesetzen und Verordnungen. Und zweitens aufgrund einer darin festgelegten hierarchisch-bürokratischen Schulverwaltungsstruktur, die nicht nur selbst Personalressourcen verschlingt, sondern vor allem auch Arbeitszeit der Schulleitungen und Lehrkräfte für unproduktive Tätigkeiten bindet, etwa für endlose Dokumentationspflichten. Gleichzeit behindert diese Struktur Innovation, denn sie führt zu schwerfälligen Entscheidungsabläufen über mehrere Ebenen. Die Mittelverwendung des Bildungsbudgets wird zentralistisch geplant, während die einzelnen Schulleiter:innen weder Finanz- noch echte Personalhoheit haben und somit „Manager ohne Mittel“ sind.
Auch da kann man der Politik nicht vorwerfen, sie hätte nichts getan: Das Ziel des Bildungsreformgesetzes von 2017 war, autonome Gestaltungsmöglichkeiten zu schaffen. Diese umfassen mehr, als der breiten Öffentlichkeit bekannt ist. Bei der Unterrichtsorganisation haben die Schulen weitgehend freie Hand und dürfen beispielsweise – im Rahmen der vorgegebenen Personalressourcen – Klassen beliebig zusammenlegen und teilen sowie die gängigen 50-Minuten-Einheiten auflösen.
Doch hat das zu einem Kulturwandel im Schulwesen geführt und das System verändert? Leider nein. Denn über das „große Ganze“ hat man sich nicht drübergetraut. Das Schulrecht ist komplex wie eh und je, das Verwaltungsaufkommen ist nicht gesunken, sondern seit 2017, wie man aus den Schulen hört, weiter gestiegen. Die Schulautonomie wurde an das bürokratische Schulverwaltungssystem „drangestückelt“, statt dieses zu ersetzen. Eine echte Autonomie mit Übertragung der Ressourcen an die Schulen, also mit Globalbudgets wie bei den Universitäten, ist nicht vorgesehen.
Die OECD nannte schon 2012 in ihrer jährlichen Studie „Education at a Glance“ den Bürokratieabbau als einen der Hauptgründe für ein auf Autonomie basierendes Schulsystem. Ähnlich sah das auch der Nationale Bildungsbericht: „Hohe Schülerleistungen können […] eher dann erreicht werden, wenn die innere Flexibilität des Systems durch Dezentralisierung bei gleichzeitiger Senkung des Verwaltungsaufkommens erhöht wird.“
Davon ist in Österreich nichts zu spüren. „Ein bisschen schwanger“ gibt’s nicht, mit „ein bisschen autonom“ ist’s ähnlich. Wenn das System weiterhin ein hierarchisch-bürokratisches ist, wenn Schulen weiterhin einem komplexen Lehrerdienstrecht unterworfen sind und weiterhin kein Gesamtbudget haben, sondern kleinteilig von oben zugeteilte Ressourcen, dann ist Schulautonomie eine mühsame Zusatzaufgabe und nicht die Freiheit und Verantwortung, die sie sein soll.
In Ländern wie Estland und Finnland sind Schulen nicht ein bisschen, sondern wirklich autonom. Das System ist von Vertrauen geprägt statt von Kontrolle. „Für Kontrolle haben wir keine Ressourcen“ heißt es dort. Die werden nämlich lieber in Unterstützung gesteckt, statt in Bevormundung.
Fazit: Wenn Österreichs Bildungspolitik konsequent durchziehen würde, was sie beginnt, dann wären wir dem Mittelmaß schon entkommen. Aber um diese Größe(nordnung) zu erreichen, fehlt bisher der Mut.