Brexit: 4 Folgen, 4 Jahre danach
Am 28. Februar 2023 schien der britische Premierminister Rishi Sunak bei einem Auftritt in Nordirland Werbung für den Wiedereintritt seines Landes in die EU zu machen – fast. Nach der Einigung auf das Windsor-Abkommen mit der EU über den Status Nordirlands versuchte Sunak Stimmung für den neuen Pakt zu machen, den er noch durch das britische Parlament in Westminster bringen muss:
„Northern Ireland is in the unbelievably special position – unique position in the entire world – in having privileged access not just to the UK market … but also the EU single market. Nobody else has that. No one. Only you guys, only here.“
Was Sunak in seiner Werbeansprache vergaß zu erwähnen: Bis zum Brexit hatte das gesamte Vereinigte Königreich diese „unbelievably special position“. Doch mit dem Austritt aus der EU hatte sich das Königreich dazu entschieden, einen eigenen Weg zu gehen, der bis jetzt keine Früchte trägt. Nur Nordirland kann aktuell noch hoffen. Eine Bestandsaufnahme.
1. Wackelige Lebensmittelversorgung
Das Vereinigte Königreich importiert über 80 Prozent aller Lebensmittel, ein Großteil davon, vor allem Verderbliches wie Fleisch und Gemüse, kommt aus der EU. Doch mit dem Brexit mussten auch wieder Zollkontrollen eingeführt werden. Die direkte Folge war ein massiver Rückstau auf der französischen Seite des Ärmelkanals, weil die Abwicklung der Zollformalitäten so lange dauerte, bevor die LKWs per Fähre übersetzen konnten. Nach anfänglichen Problemen pendelte sich dieses System ein, doch die Preise zogen an, vor allem die produzierende Industrie bemerkt einen Wettbewerbsnachteil, weil ihre Produkte in der EU durch den Zoll teurer werden.
Wie fragil dieses System ist, zeigt die aktuelle Situation, was Gemüse angeht: Seit rund zwei Wochen sind Kopfsalat, Paradeiser, Gurken und ähnliches Gemüse Mangelware in Großbritannien, die großen Supermarktketten haben deren Verkauf bereits rationiert. Vonseiten der Regierung in London wird tunlichst verhindert, dieses Problem mit Brexit zu verbinden. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache – ein Großteil der betroffenen Gemüsesorten stammt aus Spanien, das tatsächlich aktuell weniger anbaut als sonst zu dieser Jahreszeit.
Doch die Regale in der EU, die auch auf diese Produktion angewiesen ist, sind nicht leer. Durch den EU-Binnenmarkt ist es für die Landwirtschaft allerdings erheblich attraktiver, in Unionsländer zu exportieren und den Zollaufschlag zu umgehen.
Ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem UK gibt es aktuell nicht. Da die geografische Lage der Inselnation es aber schwer macht, Verderbliches von weiter weg günstig und in großen Mengen zu importieren, bleibt dieses Damoklesschwert über Großbritannien hängen, denn eine weitere schlechte Ernte auf dem Festland kann jederzeit wieder passieren. Vonseiten der konservativen Tory-Regierung in London wird dieses Problem nicht angegangen – sie liefert Vorschläge, dass die Brit:innen eben mehr heimisches Gemüse essen sollten. Rüben zum Beispiel.
2. Brexit bremst das Wirtschaftswachstum
Abgesehen von den Problemen mit Lebensmitteln haben drei Jahre Brexit inzwischen auch klar die wirtschaftlichen Folgen gezeigt: Das Vereinigte Königreich ist die einzige Volkswirtschaft der G7, die in diesen Jahren geschrumpft ist. Zahlen der OECD zufolge sank das BIP des UK zwischen dem vierten Quartal 2019 bis zum dritten Quartal 2022 um 0,4 Prozent. Zum Vergleich: Die US-Wirtschaft wuchs inzwischen, trotz Corona und Ukraine-Krieg, um 4,3 Prozent, jene Deutschlands immerhin um 0,3 Prozent. Der Wegbruch des zollfreien Handels mit dem größten Wirtschaftspartner, der EU, zeigte volle Wirkung.
Und diese wird auch nachhaltig zu spüren sein, wie die Bank of England, die Nationalbank des UK, im vergangenen Herbst feststellte. Sie warnt davor, dass das Vereinigte Königreich am Beginn der längsten Rezession seit 100 Jahren stehen könnte. Dieses Schrumpfen des Wirtschaftswachstums begann im Sommer 2022 und dürfte bis mindestens Mitte 2024 dauern. Ein Teil davon ist der „Brexit-Effekt“, der längerfristig das Wirtschaftswachstum verringert, gepaart mit der schlechten Stimmung und den hohen Zinsen, die die Regierung für Staatsanleihen zahlen muss. Und nach 2024 prognostiziert die Bank of England ebenfalls nur ein schwaches Wachstum – mit massiv höherer Arbeitslosigkeit.
3. Nordirland und der Schatten des Bürgerkriegs
Der Brexit hat auch das ehemalige Bürgerkriegsgebiet Nordirland massiv getroffen. Heuer im April ist es erst 25 Jahre her, dass durch das Karfreitagsabkommen der bewaffnete Kampf zwischen Katholik:innen und Protestant:innen in der britischen Provinz beendet wurde. Ein Hauptfaktor dieser Aussöhnung war das Ende der Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland und dem Zusammenwachsen der Gebiete.
Durch den Brexit wurde dieser fragile Frieden unter Druck gesetzt, da an dieser Außengrenze der EU eigentlich wieder Grenz- und Zollkontrollen eingeführt hätten werden müssen – ein Bruch des Karfreitagsabkommens. Ursprünglich einigten sich London und Brüssel auf das sogenannte Nordirland-Protokoll, um solch eine harte Grenze zu umgehen. Damit blieb Nordirland im EU-Binnenmarkt, die Zollgrenze wurde zwischen der Provinz und dem Rest des Vereinigten Königreichs gezogen – ein Umstand, der London-treue, protestantische Unionist:innen massiv verärgerte. Deren politischer Arm, die Demokratische Unionist:innenpartei DUP, verweigerte daraufhin die Regierungsbildung in Belfast, solange das Nordirland-Protokoll nicht beendet werden würde – eine Blockade, die bis jetzt anhält.
Sunak und die EU haben nun, wie in der Einleitung bereits erwähnt, einen Kompromiss gefunden: das Windsor-Abkommen. Damit wird die Zollgrenze in der Irischen See für Waren, die nur für die Verwendung in Nordirland vorgesehen sind, aufgehoben. Die Anzahl an EU-Gesetzen, die weiterhin in der Provinz gelten, wird „auf ein Minimum“ reduziert, wie es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei der Präsentation des Windsor-Abkommens betonte. Doch ob es in Westminster eine Mehrheit für Sunaks Abkommen geben wird, ist nicht klar. Die DUP hat sich bis jetzt negativ über den Deal geäußert, und Sunaks Vorvorgänger als Premier, Boris Johnson, ätzte bei einer Rede, dass es „sehr schwer“ sein würde, für das Abkommen zu stimmen.
Wenn es keine Mehrheit für das Windsor-Abkommen gibt, bleibt das von den Unionist:innen so verhasste Nordirland-Protokoll weiter in Kraft. Die Spannungen würden dann weiter steigen, und Sunak wäre als Premier massiv geschwächt. Noch ist nicht klar, wann es zu einer Abstimmung im Parlament kommen wird – doch viel hängt von dem Ausgang ab.
4. Schottland und die Unabhängigkeit
Nicht nur Nordirland ist seit dem Brexit eine Problemprovinz geworden. Das Ausscheiden aus der EU hat auch die Debatte über die Unabhängigkeit Schottlands wieder angefacht. Bei der ersten Abstimmung im Jahr 2014 war Brexit noch kein Thema – und eine Mehrheit von 55 Prozent war gegen die Abspaltung vom Königreich.
Es schien, als sei diese Debatte zu Ende. Doch im Brexit-Referendum stimmten die Schott:innen mehrheitlich für den Verbleib in der EU, sie wurden aber von der Gesamtbevölkerung überstimmt. Seither geht das Gespenst der schottischen Unabhängigkeit in London wieder um. Vor allem scheint die Idee der Unabhängigkeit langsam mehr Zuspruch zu bekommen, nach dem Ausscheiden des UK aus der EU gab es mehrere Umfragen, bei denen die Unabhängigkeits-Befürworter:innen die Mehrheit hatten. Diese Zustimmung schwankt – aber die Stimmung gegenüber London ist vergiftet.
Am 15. Februar 2023 trat die langjährige Regierungschefin Schottlands und SNP-Chefin Nicola Sturgeon zurück. Die Scottish National Party, die für die Unabhängigkeit Schottlands eintritt, ist momentan mit der Nachfolgesuche beschäftigt. Noch ist nicht klar, ob der oder die Nachfolger:in Sturgeons die Unabhängigkeit mit derselben Vehemenz verfolgen wird, doch das Verhältnis zur Zentralregierung wird nicht einfacher werden.
Ein Land verliert das Vertrauen
Die Mehrheit der Brit:innen sieht den Brexit inzwischen als Fehler an. Die anfängliche Euphorie ist verflogen, die Malaise angesichts nicht erfüllbarer Hoffnungen und Versprechungen des Pro-Brexit-Lagers umfasst alle Bevölkerungsgruppen. Die Folgen dieser knappen Volksabstimmung werden noch lange zu spüren sein. Der Ton in der britischen Politik ist rauer geworden, die Teuerungskrise zeigt schmerzlich die großen Löcher im sozialen Netz auf, und Massenstreiks erschweren seit Monaten zusätzlich das Leben, etwa durch Ausfälle im öffentlichen Verkehr.
Das Vereinigte Königreich scheint seit dem Brexit nicht aus der Krise herauszukommen, während die Tories Premierminister:innen verheizen und stur darauf bestehen, dass ihr Ausscheiden aus der EU ein Erfolg sei. Die Abstimmung über das Windsor-Abkommen wird ein Schlaglicht darauf werfen, ob der pragmatischere Zugang Sunaks im Unterschied zu seinen Vorgänger:innen Boris Johnson und Liz Truss im Parlament überhaupt mehrheitsfähig ist.
Unter all diesen Entwicklungen leidet vor allem das Vertrauen der Bevölkerung. Darum ist eines fix: Egal wie es ausgeht, das Land wird viel Zeit und viele Ressourcen brauchen, um die Verwerfungen zu überkommen, die Brexit verursacht hat.