Britain after Boris
Wie wird das Vereinigte Königreich nach Boris Johnson aussehen? Was sagen uns die Kandidat:innen, die um seine Nachfolge ringen, über den Zustand des Landes nach Brexit und Corona? Und was bedeutet das für die zukünftige Beziehung zur EU? Der Versuch einer Einordnung.
Boris Johnson ist weg. Also noch nicht ganz, der konservative Premierminister des Vereinigten Königreichs hat nach Monaten der politischen Skandale zwar am 7. Juli seinen Rücktritt als Regierungs- und Parteichef angekündigt, doch will er bis zur internen Wahl eines neuen Obmanns oder einer neuen Obfrau der Tories als „Caretaker“ Premierminister bleiben.
Ruhe hat diese Ankündigung keine gebracht, die Tories wollen den am Ende glücklosen Johnson möglichst rasch loswerden – zu sehr ist der ehemals strahlende Parteichef, der die Partei von der glücklosen Theresa May übernahm, inzwischen ein Klotz am Bein der Konservativen. Nach Parties in 10, Downing Street während der Corona-Lockdowns, der offenen Lügen rund um die Belästigungsvorwürfe um den Abgeordneten Christopher Pincher, den Johnson trotz Warnungen stützte, und einer Reihe herber Nachwahlverluste muss eine neue Spitze her. Nun wollen die Tories möglichst rasch einen Nachfolger küren – und die Positionen der zwei verbliebenen möglichen Kandidat:innen lassen nichts Gutes für Europa und die Beziehungen zum Königreich erahnen.
Von Johnsons „Get Brexit done“ …
Am 23. Juli 2019 übernahm Boris Johnson das Amt des Tory-Parteichefs von Theresa May, am nächsten Tag wurde er Premierminister. In der parteiinternen Wahl konnte er sich gegen seinen Konkurrenten Jeremy Hunt vor allem mit dem Kampfruf „Get Brexit Done“ durchsetzen. War es doch Johnson, der im Vorfeld der Volksabstimmung über den Austritt des Königreichs aus der EU eine der lautesten Stimmen für den Brexit war: Er behauptete fälschlich, dass Großbritannien wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU zahlen würde – Geld, das doch in das staatliche Gesundheitssystem NHS fließen könnte. Und auch mit geharnischten Sagern gegen die EU ließ er gerne aufhorchen. So versuche die EU, einen „europäischen Superstaat“ zu errichten: „Napoleon, Hitler, diverse Leute haben das versucht, und es endete tragisch. Die EU ist der Versuch, dies auf andere Weise zu erreichen.“ Der Boulevard jubelte.
Die Mühen der Ebene erreichten Johnson als Premier trotzdem. Die Verhandlungen mit der EU verliefen zäh, zäher noch als mit seiner Vorgängerin May, die immerhin um eine gute Gesprächsbasis mit den EU-Staats- und Regierungschefs bemüht war. Johnson hinterließ verbrannte Erde und eine verbitterte Stimmung aufseiten der EU, dementsprechend gestalteten sich die Verhandlungen im Herbst 2019. Johnson, der immer wieder mit einem Brexit ohne Deal für die Beziehungen nach dem Austritt drohte, musste den von Brexit-Fans so verhassten „Backstop“ trotz allem akzeptieren – eine Sicherheitsklausel, mit der der freie Warenverkehr zwischen der Republik Irland und Nordirland garantiert werden soll.
Die Frage von Zollkontrollen auf der Insel Irland sind weiterhin ein Streitpunkt zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Die London-treue Unionistenpartei Nordirlands verweigert aktuell eine Zusammenarbeit in der Provinzregierung, um damit ein Ende der Kontrollen zwischen der Provinz und dem Rest des Königreichs zu erzwingen – auch wenn das ein glatter Bruch des Brexit-Deals mit der EU wäre. Johnson hatte hier in den letzten Wochen Öl ins Feuer gegossen und vor seinem Sturz noch ein Gesetz vorgeschlagen, mit dem dieser Bruch des Deals sogar durch das Parlament abgesegnet worden wäre. Dass damit nach aktuellen Regeln Zollkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland notwendig werden würden und das für neue Spannungen in der ehemaligen Bürgerkriegsregion sorgen könnte, wurde offenbar von Johnson, seinem Kabinett und seiner Partei in Kauf genommen.
Es ist also wenig verwunderlich, dass Michel Barnier, ehemaliger Brexit-Chefverhandler der EU, wenig Wehmut zeigte, als er auf Twitter auf den Rücktritt Johnsons reagierte:
… zur verbrannten Erde seiner Nachfolge
Doch die zwei Kandidat:innen, die nach den Abstimmungsrunden unter den konservativen Parlamentsabgeordneten noch übrig sind, stehen beide nicht gerade für ein weniger verkrampftes Verhältnis mit der Europäischen Union. Rishi Sunak, ehemaliger Finanzminister unter Boris Johnson, und Liz Truss, Außenministerin unter Boris Johnson, stellen sich jetzt in der finalen Abstimmung der Parteibasis der Tories. Bis zum 2. September dauert diese Briefwahl. Das Ergebnis wird am 5. September bekannt gegeben, der oder die Gewinner:in wird am 6. September dann die Ämter Johnsons übernehmen.
Weder Sunak noch Truss wären gute Nachrichten für die EU. Sunak ist ein überzeugter Brexiter. Am Wochenende versprach er erst – mitten im parteiinternen Wahlkampf – im brexit-begeisterten Sunday Telegraph, dass er Gesetze, die noch auf EU-Richtlinien beruhen, möglichst rasch umschreiben will, weil sie „das Vereinigte Königreich bremsen und zurückhalten“ würden.
Truss würde wohl sogar noch einen härteren Ton gegenüber der Union anstimmen – muss sie doch beweisen, dass sie den Brexit wirklich unterstützt. Sie war vor der Volksabstimmung nämlich im Remain-Lager und muss sich jetzt als „geläutert“ präsentieren. So betonte ein Unterstützer, der Brexit-Fan und konservative Parlamentarier Marcus Fysh, dass nur Truss den Brexit „wirklich realisieren“ würde, Sunak hingegen würde auf pragmatischere Stimmen hören. Fysh warb so für Truss ausgerechnet im TV-Sender von Nigel Farage, dem ehemaligen Chef der Brexit-Partei.
Für beide gilt aber, dass sie den harten Kurs Johnsons in den Verhandlungen mit der EU als Teil seiner Regierung unterstützt haben. Eine Lösung der Nordirland-Frage wird also weder unter Sunak noch unter Truss leichter werden.
Symptomatisch für den konfrontativen Kurs den beide fortführen wollen, war auch ihre Aussage zur aktuellen Krise am Hafen von Dover – dort waren am ersten Ferienwochenende Ende Juli Urlauber_innen und Lkw stundenlang im Stau vor der Passkontrollen gestanden, um dann auf die Fähren nach Frankreich zu kommen. Bei der ersten TV-Debatte zwischen Truss und Sunak am 25. Juli bestritten beide, dass die Verzögerungen irgendetwas mit dem Brexit zu tun haben würden. Dabei dauern die Passkontrollen seit dem Austritt des Königreichs aus der EU automatisch länger – weil die britischen Drittland-Pässe nun genauer kontrolliert und gestempelt werden müssen. Eine Verkehrsexperte rechnete vor, dass die Kontrolle pro Pass jetzt statt durchschnittlich einiger Sekunden eine Minute dauert – was natürlich mit dem Brexit zu tun habe. Doch für die Brexit-Verteidiger Truss und Sunak ist das anscheinend eine Wahrheit, die nicht zugegeben werden darf.
Es wird nicht einfacher für die EU
Die Wettbüros sehen auf jeden Fall die besseren Chancen für Truss in der finalen Runde. Die Parteibasis, die jetzt abstimmt, ist weißer, älter und konservativer als die Parlamentsfraktion der Tories, in der Sunak mehr Stimmen holen konnte. Der rechte Flügel der Partei, zu dem auch Truss gehört, ist in der Basis stärker vertreten, und Brexit-Darlings wie Jacob Rees-Mogg werben unverblümt für die Außenministerin – Rishi Sunak, der mit seinem Rücktritt das Ende von Boris Johnson als Premierminister einläutete, wird als Verräter und „Sozialist“ gebrandmarkt.
Doch egal, wer am Ende die finale Abstimmung gewinnt und in Zukunft das Vereinigte Königreich regiert – Michel Barniers Hoffnung auf mehr Kooperation mit London wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.