Bürgerräte: So könnte Österreich die Bevölkerung besser einbinden
Das politische System kämpft mit sinkendem Vertrauen. In vielen Staaten wird deshalb ein neues Instrument ausprobiert, um die Bevölkerung wieder stärker in politische Entscheidungen einzubeziehen: der sogenannte Bürgerrat.
Man stelle sich kurz vor, man könnte selbst entscheiden. Nicht indirekt, durch Stimmabgabe und danach wieder passives Zusehen, sondern wirklich mitentscheiden, welche Politik das Land fährt. Wie würde Österreich entscheiden?
Dieses Szenario, das für viele schon absurd klingen wird, könnte immer realistischer werden. Denn nicht nur hierzulande setzt die Politik mehr und mehr auf sogenannte Bürgerräte. Eine Idee, die zuerst in Irland für Aufsehen sorgte – und mittlerweile auch in Österreich zumindest eine Proberunde absolvieren durfte.
Was Bürgerräte können
In Irland besteht ein Bürgerrat aus 99 Mitgliedern, die einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden sollen. Menschen aus allen Alters- und Einkommensgruppen aus allen Regionen des Landes kommen zusammen, um im Auftrag der Regierung eine Entscheidung zu treffen. Der Gedanke: Wenn die Menschen repräsentativ ausgewählt sind, kommen am Ende Entscheidungen heraus, bei denen alle mitkönnen – die Stadt entscheidet nicht über das Land, die Alten nicht über die Köpfe der Jungen hinweg.
Die Mitglieder dieses Gremiums diskutieren über wichtige gesellschaftliche Fragen und erarbeiten Vorschläge, wie das Leben im Land verbessert werden kann. Dabei bekommen sie Expertise zur Seite gestellt – wer also fachliche Fragen hat, z.B. zu Statistiken, ist also nicht auf sich allein gestellt.
Eingesetzt wird dieser Bürgerrat vor allem bei kontroversen Themen – also dann, wenn die Regierung sich nicht entscheiden kann oder will.
Was mit dem Bürgerrat erreicht wurde
So geschehen beim Thema Abtreibung. Nach einer Volksentscheidung 1983 war das katholische Irland eines der strengsten Länder, wenn es um Schwangerschaftsabbrüche ging – einem Fötus wurde das gleiche Recht auf Leben eingeräumt wie das einer Schwangeren. Ein direktdemokratischer Entscheid, an dem nicht gerüttelt werden durfte, bis die Regierung einen Bürgerrat einsetzte.
Als mehr und mehr Umfragen zeigten, dass die Mehrheit der Gesellschaft liberaler geworden war – immerhin gab es eine neue Generation an Menschen, die anders dachten – setzte die irische Regierung einen Bürgerrat ein, der sich am Ende mit einer Zweidrittelmehrheit für ein Recht auf Abtreibung aussprach. Wenig später folgte ihr die irische Bevölkerung in Form eines neuen Volksentscheids.
Abtreibung, Gleichberechtigung: Man sieht, der Bürgerrat ist eher für die polarisierenden Themen zuständig. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron berief erst durch die Proteste der „Gelbwesten“ einen ein. Diese demonstrierten gegen hohe Benzinpreise. Der Gedanke: Wenn die Bevölkerung selbst Lösungen erarbeitet, wie sich die Klimaziele und das Bedürfnis nach leistbarer Mobilität im Jetzt vereinbaren lassen, stoßen diese eher auf Zustimmung.
Bürgerräte gegen Politikverdrossenheit
Nicht nur in Frankreich, sondern auch in Irland war die Einführung von Bürgerräten eine Reaktion auf eine Vertrauenskrise. Nach der Finanzkrise 2008 gaben viele in Irland an, der Politik nicht mehr zu trauen, die richtigen Lösungen zu finden. Die irische Regierung folgte den Empfehlungen der Politikwissenschaft und setzte den Bürgerrat unter anderem ein, um die Bevölkerung wieder stärker in politische Entscheidungen einzubinden.
2012 wurde der Bürgerrat das erste Mal als „Verfassungskonvent“ einberufen. Mit ihm wurde auch die Volksabstimmung zum Recht auf Ehe für homosexuelle Paare beschlossen – ein Meilenstein, weil Irland das erste Land war, das diese Gleichberechtigung durch direktdemokratische Mittel einführte. Seit 2014 ist die „Citizen Assembly“, wie der Bürgerrat in Irland genannt wird, im Regelbetrieb.
Ein Gehversuch in Österreich
Auch in Österreich wurde mittlerweile ein Bürgerrat eingeführt. Der „Klimarat“ wurde wie in Irland für ein Thema eingesetzt, bei dem die Bundesregierung auf keinen gemeinsamen Nenner zu kommen scheint: 100 Menschen konnten mit Unterstützung aus der Wissenschaft Vorschläge erarbeiten, wie Österreich beim Klimaschutz Fortschritte macht.
Die Ergebnisse: Der Klimarat wünschte sich unter anderem die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, einen höheren Preis von 120 Euro pro Tonne CO2, die Senkung der erlaubten Geschwindigkeit auf Bundesstraßen und ein Klimaschutzgesetz. Die Flächenwidmung soll von den Gemeinden zu den Ländern wandern, um den Bodenverbrauch besser zu reduzieren, Verbrenner sollen schon ab 2027 nicht mehr zugelassen werden.
Forderungen, die manchen zu weit gehen könnten – aber eben durch eine repräsentative Auswahl der Bevölkerung erarbeitet und legitimiert werden. Der Gedanke: Wenn die Durchschnittsbevölkerung alle Informationen hat, ist sie offensichtlich auch dafür, dass im Klimaschutz etwas weitergeht.
Dass das so ist, legt auch das Beispiel Frankreich nahe: Auch dort wurden 149 Empfehlungen erarbeitet, die jenen des Klimarates teilweise stark ähneln, z.B. ein strengeres Tempolimit oder der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel. Dazu kommen aber auch ein Verbot von Inlandsflügen – ein Problem, das im größeren Frankreich sehr viel präsenter ist als in Österreich – und mehr vegetarische Speisen in französischen Kantinen.
Die Kernfrage: Wie relevant sind die Ergebnisse?
In Österreich scheint es aber fürs Erste ausgeschlossen, dass das Instrument des Bürgerrates echte Veränderung bringt. Denn der ÖVP-Klimasprecher hat bereits ausgerichtet, er sehe in diesem Instrument „keine Relevanz“ und es sei absolut „untauglich“, um Entscheidungen zu treffen. Die Forderungen des Klimarates, der von der Regierung ausgerufen wurde, werden also ignoriert.
Das ist auch die kritische Frage, wenn es um Bürgerräte geht: Welche rechtliche Relevanz haben sie in der Praxis? Wenn es sich nur um „Empfehlungen“ handelt, die von der Regierung entweder umgesetzt oder ignoriert werden können, liegt es am Mut der Politik. Auch in Irland sind die Vorschläge zwar nicht bindend – dort gelten sie aber immerhin als potenzielle Entscheidungsgrundlage für direktdemokratische Abstimmungen.
Fehleranfälligkeit auch beim Bürgerrat
Und auch sonst muss bei der Einführung von Bürgerräten einiges beachtet werden. Wer bestimmt z.B. die Faktoren, die für „Repräsentativität“ sprechen? Eine Kritik, die bei der Durchführung des Klimarates laut wurde, war die Bedingung des aufrechten Impfstatus – ein großer Teil der Bevölkerung, der die Impfung ablehnt, war also nicht vertreten. Ähnlich könnte es mit anderen statistischen Merkmalen sein, die für die politische Meinungsfindung eine Rolle spielen könnten.
Generell liegt das Risikopotenzial von Bürgerräten darin, wie professionell sie durchgeführt werden. Die Qualität der wissenschaftlichen Expertise, die ihnen zur Seite gestellt wird, muss genauso stimmen wie das Setting, in dem sie sich treffen, und zwar hoffentlich bis zum Ende regelmäßig. Sowohl irische als auch französische Beispiele zeigen, dass so manches Mitglied eines Bürgerrates in der Mitte des Prozesses aussteigt. Die Treffen und die Ressourcen, mit denen dabei gearbeitet wird, kosten trotzdem Steuergeld – die konkrete Ausgestaltung entscheidet also, wie sinnvoll die Einsetzung eines Bürgerrates überhaupt sein kann.
Was Österreich noch lernen muss
Für Irland war die Einführung des Bürgerrates ein Instrument gegen das sinkende Vertrauen in der Finanzkrise, für Emmanuel Macron eine Antwort auf die Proteste der Gelbwesten. Es liegt also nahe, in einer Vertrauenskrise, wie auch Österreich sie gerade erlebt, auf mehr öffentliche Beteiligung zu setzen. Wichtig wäre nur, dass diese Empfehlungen auch zählen – und nicht ignoriert werden, wie es auch bei Volksbegehren der Fall ist.
Die heimische Politik könnte hier von anderen Staaten lernen. Mit einem institutionalisierten „Red’s in a Kastl“ wird man das Vertrauen in die Demokratie aber kaum wiederherstellen. Österreich hat hier noch einen weiten Weg vor sich.