Das Fake-News-Ende des Mutter-Kind-Passes
Der Mutter-Kind-Pass ist seit 1974 Teil der Gesundheitsversorgung von Schwangeren und Kindern und hat im Laufe der Jahre zur Reduktion von Mütter- und Säuglingssterblichkeit beigetragen. Jetzt soll er soll vor dem Ende stehen, obwohl im Parlament eigentlich eine Erweiterung des Mutter-Kind-Passes beschlossen wurde. Die große Frage ist also: Wie ist die Geschichte vom Ende entstanden?
Der Mutter-Kind-Pass war zuletzt im Gespräch, weil es Gerüchte um sein Ende gab. Das Ministerium schließt diese aus – trotz eines Beschlusses der Ärztekammer, aus dem Mutter-Kind-Pass auszusteigen, wenn es keine Honorarerhöhungen gibt.
Um das zu schaffen, wird der Finanzierungsweg wohl massiv angepasst werden. Damit man versteht, woran es hakt, müssen wir uns aber zuerst den Mutter-Kind-Pass und seine Funktionsweise genauer ansehen.
Wie der Mutter-Kind-Pass funktioniert
Offiziell ist die Existenz des Mutter-Kind-Passes über das Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) geregelt. Es mag ein unattraktives Wort sein, aber dieses Gesetz regelt die finanzielle Lastenverteilung zwischen Haushalten mit und ohne Kindern.
Vereinfacht gesagt funktioniert das so: Wir alle zahlen Lohnnebenkosten. Und von diesen ist ein konkreter Anteil dafür vorgesehen, bestimmte Familienleistungen zu finanzieren. Diese werden im sogenannten „Familienlastenausgleichsfonds“ – kurz FLAF – gesammelt. Und eine der Leistungen, die damit bezahlt werden, ist eben der Mutter-Kind-Pass.
Zur Finanzierung hat man sich auf eine Zweidrittel-Zahlung geeinigt: Der Bund zahlt zwei Drittel der Untersuchungen, die Sozialversicherung zahlt das verbleibende Drittel. Weil für Mütter ohne Versicherung die gesamten Kosten aus den Familienleistungen bezahlt werden und der Mutter-Kind-Pass seine Basis im FLAG hat, zahlt das Familien- dem Gesundheitsministerium eine Pauschale – die aber wiederum unterschiedlich ausgewiesen wird. Zumindest gibt es zwischen Anfragebeantwortungen und den Budgetabschlüssen leichte Abweichungen.
Grob gesagt bewegen sich die Kosten des FLAF für die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen aber jährlich rund um die 41 Millionen Euro. Das Gesundheitsministerium ist dabei nur eine Durchlaufstelle – es leitet das Geld also nur weiter – und ersetzt den Versicherungsträgern zwei Drittel der Kosten für die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen.
Wie viele Untersuchungen gemacht werden
Damit besonders viele Kinder zu den Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen kommen, gibt es seit 2002 ein Bonus-System: Wer nicht zumindest fünf Schwangerschaftsuntersuchungen und fünf Untersuchungen des Kindes nachweisen kann, erhält das Kinderbetreuungs- oder Karenzgeld nicht in der vollen Höhe. Da die fünfte Untersuchung des Kindes aber erst zwischen dem 10. und 14. Lebensmonat vorgesehen ist, bringt dieser Anreiz bei einer Karenzzeit unter einem Jahr möglicherweise nur wenig.
Das zeigen auch die beschränkt verfügbaren Daten. Erfasst werden in der Statistik der Kassen nämlich nur die Untersuchungen, die bei niedergelassenen Ärzten abgerechnet werden. Offensichtlich wird die allererste Untersuchung, die eine Woche nach der Geburt stattfindet, aber sehr häufig direkt im Krankenhaus durchgeführt – anders ist der massive Einbruch bei den Abrechnungszahlen nicht erklärbar.
Schaut man sich diese Zahlen an, muss man sich die Größendimensionen in Erinnerung rufen: Die Spitze nach oben ist die Anzahl der Geburten, die Untersuchungen während der Schwangerschaft werden also von rund 60 Prozent der Schwangeren besucht. Die sinkende Zahl ist z. B. auf potenzielle Fehlgeburten zurückzuführen. Den Geburten folgt ein rapides Absinken bei der Untersuchung eine Woche nach der Geburt. Diese dürfte meist im Krankenhaus der Geburt durchgeführt werden und scheint damit bei den Versicherungsträgern nicht auf.
Außerdem ist gut ersichtlich, dass nach den fünf Untersuchungen, die zum vollen Bezug des Kinderbetreuungsgeldes nötig sind, die Anzahl der Untersuchungen abnimmt. Das bedeutet, dass die Bereitschaft zur Teilnahme nach den Pflichtuntersuchungen abnimmt – und zwar direkt zusammenhängend mit dem Alter der Kinder. Das Wichtigste wäre also, auch Kinder in Kindergartenalter noch zu den Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen zu bringen. Das reine Angebot von Untersuchungen bis zum fünften Lebensjahr, bzw. bis zum 62. Lebensmonat, hilft offensichtlich nicht genug.
Kammer gegen Kasse
Geplant und nötig ist eine Weiterentwicklung, damit das Untersuchungsprogramm mehr Jahre und Untersuchungen abdeckt und die gesundheitliche Entwicklung von Kindern besser überwacht wird.
Das Problem dabei: Obwohl die Bundesebene die Honorare für diese Untersuchungen zahlt, bestimmt sie nicht, wie viel diese kosten. Denn gesetzlich wird das über eine Vereinbarung zwischen der Ärztekammer und dem Dachverband der Sozialversicherungsträger geregelt. Diese beiden Stellen vereinbaren, welche Teile der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen mit welchem Betrag bezahlt werden. Da die Einigung bundesweit getroffen wurde, müssten die Tarife überall gleich sein.
Obwohl die Leistungen gleich sind, variieren die Zusatzzahlungen (zb für den generellen Besuch und nicht nur die einzelne Mutter-Kind-Pass-Untersuchung) in den Bundesländern. Wie viele Leistungen von wem erbracht wurden und wie viele Summen des FLAFs an die Ärzte ausbezahlt wurden, ist wiederum nicht ganz ersichtlich – denn der Dachverband rechnet die Untersuchungen immer auf Basis der Geburtenstatistik ab. Insgesamt ist die Geschichte damit also eher intransparent. Besonders, wenn man sich noch einmal die große Differenz zwischen der Anzahl der Geburten und der Anzahl der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen in Erinnerung ruft.
Seit einigen Wochen fordert die Ärztekammer nun eine Erhöhung dieser Honorare. Laut ihrer Auskunft wird seit mindestens 2014 verhandelt – damals wurden die ersten Arbeitsgruppen zu einer Erweiterung des Mutter-Kind-Passes gegründet. Kernpunkte waren dabei immer ein längerer Zeitrahmen, mehr Untersuchungen und vor allem die Frage: Welche Untersuchungen braucht es? Im Laufe der Jahre wurden Pläne geschmiedet, internationale Vergleichsuntersuchungen von ähnlichen Programmen durchgeführt (beispielsweise hier), Berechnungen über die Kosten angestellt und immer wieder neu gewählt. Und die Ärztekammer wurde bei der Forderung auf eine Tariferhöhung immer wieder vertröstet. Bis es ihr jetzt eben gereicht hat.
Die neue Forderung der Ärztekammer
1994 wurden die jetzigen Tarife vereinbart. Das bedeutet, dass sie seit 28 Jahren nicht angepasst wurden. Je nach Fachbereich und Kasse kann das bei einzelnen Untersuchungen vielleicht vorkommen – wenn der Staat allerdings darauf besteht, dass Untersuchungen durchgeführt werden und diese auch Bedingung für den Erhalt von Beihilfen oder eben Karenzgeld sind, ist es wohl berechtigt, irgendwann eine Anpassung zu fordern.
Weniger sympathisch ist die Art, wie diese Forderung kommuniziert wurde: „Wir brauchen jetzt eine Erhöhung, ansonsten wird der Vertrag aufgelöst.“ Und die Drohung ist ernst gemeint, immerhin wurden die Beschlüsse zum Vertragsausstieg durch mehrere Gremien nach oben eskaliert: Mit Anfang Oktober begannen die Aussendungen verschiedener Landesärztekammern, schon am 20. Oktober wurde in der Konferenz der Landesgesundheitsreferenten beschlossen, dass Gesundheitsminister und Familienministerin einen Weg zur Tariferhöhung finden müssen. So weit so gut – doch das Budget für das Jahr 2023 wurde schon am 12. Oktober präsentiert, und dort ist das Budget des FLAF für die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen gleich hoch wie für 2022.
Offiziell liegen die Verhandlungen beim Dachverband. Allerdings ist eben nicht geklärt, für wie viele Untersuchungen die FLAF-Mittel tatsächlich ausreichen und wie viele daraus bezahlt werden. Denn teilweise können eben auch die Versicherungsträger nicht genau auseinander rechnen, wie viele Positionen gemeinsam abgerechnet und wie hoch die einzelnen Summen sind. Ausgewiesen werden können die reinen Umsätze, das wären ungefähr 22 Millionen Euro. Nicht einberechnet sind dort die Sonderversicherungen von beispielsweise Statuarstädten, die sogenannten Krankenfürsorgeanstalten (KFAs), die Ordinationspauschalen und die Untersuchungen, die bei Wahlärzten durchgeführt und dann zurückerstattet werden können. Insgesamt spricht man bei der Versicherung von rund 62 Millionen Euro, das wäre die erwartete Größenordnung der Zweidrittel-Regel.
Es fehlt also am Budget. Aus dem Familienministerium wird es bekannterweise nicht kommen, aus dem Gesundheitsministerium entspricht es eigentlich nicht der vereinbarten Vorgehensweise. Dennoch spricht Gesundheitsminister Rauch von baldigen Lösungen, kalmiert auf Twitter, dass die mediale Aufregung doch nicht nötig sei.
Womit eine Erhöhung finanziert werden könnte
Wo soll die Erhöhung also herkommen? Schon vergangenes Jahr stand der Mutter-Kind-Pass im Budget des Gesundheitsministeriums. Denn 2021 einigte man sich im Parlament: mit den Stimmen aller Parteien wurde eine Weiterentwicklung zum Eltern-Kind-Pass bis zum 18. Lebensjahr beschlossen, die bereits erwähnten Arbeitsgruppen des Ministeriums hatten damit endlich eine Legitimation. Ein erster Schritt soll die Digitalisierung des Passes sein. Anstelle eines physischen Passes, dessen Kopien zur Vorlage bei der Versicherungen nötig sind, soll das gesamte System digitalisiert werden können.
Für derartige Projekte, die den Staat modernisieren, können dank der Pandemie EU-Gelder abgerufen werden – und zwar Mittel aus dem sogenannten EU Recovery Fund. Im Mai 2021 wurden diese Projekte im Budgetausschuss diskutiert für die Digitalisierung wurde 2022 eine halbe Million veranschlagt, im Budget für 2023 sind drei Millionen für diese Digitalisierung des Mutter-Kind-Passes bereitgestellt. Ziel ist bis Juni 2023 eine Gesetzesbasis. Die Finanzierungsprobleme des Mutter-Kind-Passes werden damit aber nicht gelöst sein, immerhin ist die Digitalisierung noch lange nicht mit mehr oder erweiterten Untersuchungen verknüpft und für Honorarerhöhungen der Ärzte dürfen diese zweckgebundenen Mittel auch nicht genutzt werden.
Offen bleibt als Finanzierungsmöglichkeit ein zweites EU-Projekt: Die frühen Hilfen. Sie waren 2022 mit fünf Millionen dotiert, 2023 sind es sieben Millionen. Soweit aus den Projektunterlagen ersichtlich sind die frühen Hilfen ein dezidiertes Projekt für sozioökonomisch benachteiligte Familien und offensichtlich will die Regierung sich auf diese Inhalte ausreden. So wurde mit viel Jubel angekündigt: mehr Familienberatungen und ein Hebammenbesuch werden abgedeckt, der Pass wird eine App und während der Schwangerschaft wird eine Ernährungsberatung angeboten. Den Hebammenbesuch gibt es aber schon im Rahmen des Mutter-Kind-Passes, die Umbenennung und Digitalisierung wurde beschlossen und ist längst in Umsetzung, von einer Erweiterung bis zum sechsten Lebensjahr kann nicht gesprochen werden, da die Untersuchungen bereits bis zum 62. Lebensmonat (also gut dem 5. Geburtstag) reichen. Inwiefern die Gehaltserhöhungen für die Ärzte gelöst wurden, wurde aber nicht erklärt.
Ein Beispiel für Reformstau
Die Mittel der Familienministerin sind klar aufgeschlüsselt, sie verwies in den Budgetausschüssen auf eine baldige Einigung. Der Gesundheitsminister dagegen hat sich weiter in die Karten blicken lassen. Die Digitalisierung sei der Kernpunkt, auf die Tarife habe man sich bereits geeinigt und insgesamt stünden zehn Millionen für den Mutter-Kind-Pass zur Verfügung. Das wäre ein eindeutiger Verweis auf die Mittel für die frühen Hilfen – und die sind damit nur eingeschränkt für einen allgemeinen Ausbau nutzbar.
Am Tag vor dem Budgetbeschluss wurde die Weiterentwicklung präsentiert. Die einzelnen Maßnahmen:
- Eltern- und Familienberatungen, die auch Informationen über das Kinderbetreuungsgeld liefern sollen (beide aus einem anderen Topf des Familienbudgets)
- Psychosoziale Beratungen (die wohl unter die frühen Hilfen fallen werden)
- eine Hebammenuntersuchung (die es bereits gibt – das ist keine Veränderung)
- ein weiterer Ultraschall, Laboruntersuchungen und eine Höruntersuchung (deren Finanzierung nicht im Budget abgebildet ist)
- Ernährungs- und Stillberatungen (die wohl aus einem anderen Posten bezahlt werden sollen)
- und die Digitalisierung des Passes (die bereits in Vorbereitung ist und aus einem anderen Budget bezahlt wird)
Was nach viel klingt, enthält aber wenige Details – und dezidiert offen bleibt auch die Honorarerhöhung für Ärzte. Diese soll seitens des Finanzministeriums übernommen werden, der Mutter-Kind-Pass führt also dazu, dass am Tag vor dem Budgetbeschluss bereits eine Nachverhandlung fix ist.
Die Ärztekammer fährt ihre Drohgebärden in der Zwischenzeit weiter. Und damit geht medial die Angst um, dass die Kosten für Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen selbst ausgelegt werden müssen. Da der Bezug des Kinderbetreuungsgeldes aber an diese gebunden ist, müsste der Staat den Jungeltern die Kosten ersetzen – unabhängig von der auszahlenden Stelle. Bei Privattarifen wird das definitiv teurer als die noch geltenden Regelungen.
Und die Moral aus der Geschichte? Reformen schiebt man nicht mit großen Plänen auf die Bank. Es braucht permanente Anpassungen, Budgetangleichungen und zumindest kleine, fortlaufende Entwicklungen. Ansonsten bleiben nur Notfalllösungen, die wieder nur als Überbrückungen zählen und uns langfristig kaum helfen werden – wie wir es eben beispielsweise auch bei der Pflegereform sehen.