Das ist die neue deutsche Sicherheitsstrategie
Seit dem Ukraine-Krieg hat sich in der Weltpolitik einiges geändert. Die traditionell blockfreien Staaten Finnland und Schweden treten der NATO bei, die USA schafft neue Bündnisse im pazifischen Raum, der französische Präsident spricht von „strategischer Autonomie“. Und auch Deutschland ist aufgewacht: Nach der von Olaf Scholz benannten „Zeitenwende“ gibt sich Europas größte Wirtschaftsmacht eine neue Sicherheitsstrategie.
Österreich sollte da genau hinschauen. Immerhin startet auch hierzulande gerade der Prozess, eine solche zu erarbeiten. Die aktuelle Sicherheitsstrategie spricht nicht nur von Russland als „Partner“, sondern ist laut Meinung des Experten Gerald Karner auch „eine Strategie, die nur die Autoren verstehen“. Um die neue sicherheitspolitische Lage abzudecken und die Frage zu beantworten, wie Österreich sich schützen kann, ist aktuell eine neue Strategie in Arbeit.
Das Beispiel unseres großen Nachbarstaats liefert dabei viele gute Punkte, an denen sich auch Österreichs Außenpolitik orientieren kann. In neun Punkten gehen wir das Wesentliche aus dem 74-Seiten-Dokument durch.
1. Ein neuer Sicherheitsbegriff
Eine Wortschöpfung, die in der deutschen Sicherheitsstrategie immer wieder vorkommt, ist „integrierte Sicherheit“.
Das merkt man auch an der schieren Anzahl an Themen, die in der Strategie als Faktor der deutschen Sicherheit genannt werden. Denn Sicherheit bedeutet für Deutschland nicht nur die Summe aus Diplomatie und Militär, sondern auch etwa die Förderung demokratischer Werte weltweit, Klimaschutz, der Schutz kritischer Infrastruktur oder die Prävention zukünftiger Pandemien. Ein Trend, der sich durch die ganze Strategie zieht.
„Integrierte Sicherheit bedeutet, alle Themen und Instrumente zusammenzubringen, die für unsere Sicherheit vor Bedrohungen von außen relevant sind. Sicherheit ist in diesem Sinn Bestandteil aller Politikbereiche und beschreibt ein gemeinsames Ziel.
2. Die Interessen der Deutschen
Im Rahmen der integrierten Sicherheit gelten also viele Themen als sicherheitspolitisch. Dazu kommt, dass sich die Bundesrepublik vornimmt, diese Themen anhand der eigenen Interessen und Werte zu verfolgen. Insofern ist es sinnvoll – und spannend zu lesen –, dass die sicherheitspolitischen Interessen des deutschen Staates jetzt für alle online nachlesbar sind. Die kurze Aufzählung im Originaltext:
- Der Schutz der Menschen, der Souveränität und der territorialen Integrität unseres Landes, der Europäischen Union und unserer Verbündeten;
- der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung;
- die Stärkung der Handlungsfähigkeit und des inneren Zusammenhalts in der Europäischen Union sowie die Festigung und des Ausbaus unserer tiefen Freundschaft mit Frankreich;
- die Festigung der transatlantischen Allianz und der engen und vertrauensvollen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika;
- Wohlstand und sozialer Zusammenhalt der Menschen unseres Landes durch den Schutz unserer sozialen Marktwirtschaft;
- eine freie internationale Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts, der Charta der Vereinten Nationen und universeller Menschenrechte;
- die Förderung von Frieden und Stabilität weltweit und das Eintreten für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, menschliche Entwicklung und Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen als Voraussetzung für nachhaltige Sicherheit;
- der nachhaltige Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, die Begrenzung der Klimakrise und die Bewältigung ihrer Auswirkungen, die Sicherung des Zugangs zu Wasser und Ernährung und der Schutz der Gesundheit der Menschen;
- ein offenes, regelgeleitetes internationales Wirtschafts- und Finanzsystem mit freien Handelswegen und einer gesicherten, nachhaltigen Rohstoff- und Energieversorgung
3. Deutschland benennt seine Feinde
Jetzt kennen wir also das Konzept, wie die Deutschen in Zukunft über Sicherheit nachdenken werden, und die Interessen, die die Bundesrepublik sichern will. In einer Weise, die für Deutschland historisch gesehen mutig und relativ offensiv ist, werden danach schon früh in der Strategie die „Feinde“ benannt – auch wenn im Dokument weniger offensive Begriffe dafür verwendet werden.
So ist Russland kein Feind, aber dafür „auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg wird ungeschönt verurteilt. Und auch bei China ist Deutschland relativ deutlich: „China ist Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“. Hinter dieser bunten Mischung an Bezeichnungen steckt das Bekenntnis, dass man China für „globale Herausforderungen“ brauche, etwa den Klimaschutz. Trotzdem steht in der Sicherheitsstrategie deutlich, dass mit manchen Staaten eine Rivalität um Einflusssphären bestehe – was auch eine Bedrohung für Menschen- und Freiheitsrechte sei. Auch der Irak und Nordkorea werden namentlich genannt.
Spannend ist, dass sich die Sicherheitsstrategie auch mit den Methoden beschäftigt, die Deutschlands nicht als solche benannte Feinde anwenden. So hält das Dokument etwa fest, dass Energie- und Rohstoffpolitik Teil einer Interessenspolitik wären, die sich gegen Völker- und Menschenrechte richte – eine Kritik an der eigenen Abhängigkeit von russischem Gas, die auch Österreich stark trifft. Aber auch Desinformations-Kampagnen, Extremismus und einseitige Abhängigkeiten in anderen Bereichen als Energie werden in diesem Zusammenhang als Risiken genannt, etwa im Technologie-Bereich. Eine freie internationale Wirtschaftsordnung sei auch im Sicherheitsinteresse der freien Demokratien.
„Geprägt von ihrer Auffassung von systemischer Rivalität streben einige Staaten jedoch an, diese Ordnung zu untergraben und so ihre revisionistischen Vorstellungen von Einflusssphären durchzusetzen. Sie verstehen Menschen- und Freiheitsrechte und demokratische Teilhabe als Bedrohung ihrer Macht.“
4. Von der Landes- zur Bündnisverteidigung
Die vielen Themen, die Deutschland im Rahmen der „integrierten Sicherheit“ als Teil der nationalen Sicherheitsstrategie definiert, gelten nicht nur auf deutschem Territorium. Denn das Dokument schreibt fest, dass die deutsche Sicherheit unmittelbar mit der Sicherheit seiner Bündnispartner zusammenhänge. Neben Europa – die europäische Ebene wird bei jedem Punkt nochmal extra erwähnt, um die Entschlossenheit zu betonen – gibt es aber einige Partner, die öfter erwähnt werden als andere:
- Die NATO stehe nicht nur militärisch, sondern auch politisch für die Zusammenarbeit zwischen Europa und Nordamerika. Deutschland will den „europäischen Pfeiler“ dieses Bündnisses stärken und eine „eigene europäische Handlungsfähigkeit“ erreichen.
- Frankreich wird immer wieder als wichtiger Partner zitiert – auch wenn das Nachbarland eigentlich bei EU und NATO mitgemeint sein könnte. Es wird sogar ganz konkret auf den Artikel 4 des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Vertrags von Aachen verwiesen, in der sich die beiden Länder gegenseitige Beistandspflicht zusagen.
- Die USA werden ebenfalls als wichtiger strategischer Partner genannt.
- Israel kommt vor allem deshalb vor, weil die deutsche Sicherheitsstrategie sehr früh feststellt, dass Deutschland sich zum Existenzrecht Israels bekennt. Mehrmals wird auch der Hintergrund der eigenen Geschichte betont.
Das Bekenntnis zu Bündnispartnern geht über rhetorische Zusagen hinaus: Deutschland wird das NATO-Ziel, 2 Prozent des BIP in Verteidigung zu investieren, erfüllen und seine militärische Präsenz in „Bündnisgebieten“ weiter ausbauen, um verstärkt Verbündeten zu helfen. Konkret zitiert die deutsche Sicherheitsstrategie zwei rechtliche Bestimmungen: Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags und Artikel 42, Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union. Hinter beiden steckt die Beistandspflicht – wenn also ein Partner angegriffen wird, würde Deutschland sein Versprechen halten, militärisch zu helfen.
„Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der unserer Alliierten und europäischen Partner verbunden. Bündnis- und Landesverteidigung sind eins.“
5. Eine wehrhafte Demokratie
Jetzt wissen wir bereits, dass Deutschland seine Sicherheit nicht nur militärisch versteht und dass autoritäre Regime als „systemische Rivalen“ erkannt wurden. Wenig überraschend ist also, dass der Einfluss genau dieser autoritären Strömungen abgewehrt werden soll. Auch die Gefahr von gezielter Desinformation wird explizit angesprochen. Mit einer Reihe an Maßnahmen will Deutschland verhindern, dass die demokratischen Institutionen geschwächt werden.
Investiert wird unter anderem in den Schutz kritischer Infrastrukturen und den Aufbau von „Cyberfähigkeiten“ – man will sich also gegen Hacker-Angriffe schützen. Dazu kommen aber zahlreiche angekündigte Strategien und Maßnahmenpakete, um den Kampf gegen Desinformation aufzunehmen: Mehr Medienkompetenz, Bildungsmaßnahmen und überzeugende Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung gehören dabei zu den konkreteren Punkten. Wohl auch ein Zeichen, dass man „Fake News“ aus Russland etwas entgegensetzen will.
Aber auch international investiert Deutschland in Maßnahmen, um autoritäre Staaten nicht zu stark werden zu lassen. Dazu gehört auch eine handlungsfähige Diplomatie und die „Stabilisierung von Partnerstaaten“. Gerade in Nachbarstaaten der Europäischen Union, etwa in Nordafrika oder im Nahen Osten, sieht man Destabilisierung als Sicherheitsrisiko, weil dort nicht nur Terrorismus, sondern auch der Einfluss autoritärer Staaten blühen könne. In diesen Regionen will sich Deutschland mit humanitärer Hilfe und verstärkter Entwicklungszusammenarbeit beteiligen.
„In offenen und demokratisch verfassten Gesellschaften muss das Vertrauen in deren Institutionen stets aufs Neue gewonnen werden. Dies schützt sie auch vor illegitimer Einflussnahme von innen wie von außen.“
6. Zivile Landesverteidigung
Im Sinne der Resilienz geht es aber nicht nur um Desinformation, sondern auch um den Umgang mit Katastrophen, den Schutz kritischer Infrastruktur und die allgemeine Krisenfestigkeit der Bundesrepublik.
Die Bürger:innen sieht man dafür als „unverzichtbare Grundlage“, es soll ein belastbares Netz von Akteur:innen geben. Durch breites zivilgesellschaftliches Engagement und ehrenamtliche Strukturen soll Deutschland krisensicherer werden – darum plant man, die Regelung für Freistellungen in der Wirtschaft zu vereinheitlichen und das Ehrenamt stärker zu würdigen. Der Austausch zwischen Bund und Ländern soll nicht vergessen werden, und auch außerhalb des Ehrenamts sollen Bürger:innen praktische Präventions- und Handlungsmöglichkeiten für den Krisenfall kennen.
„Aufgrund der starken Wechselwirkungen zwischen äußerer und innerer Sicherheit hängt die Handlungsfähigkeit Deutschlands nach außen zunehmend auch von seiner Resilienz im Inneren ab. Diese liegt in der gemeinsamen Verantwortung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.“
7. Wirtschaftliche Landesverteidigung
Als größtes Sicherheitsrisiko auf wirtschaftlicher Ebene sieht Deutschland die Gefahr einseitiger Abhängigkeiten – Ziel der Sicherheitspolitik ist also auch, diese nach und nach zu reduzieren. Eine Lehre aus der bitteren Abhängigkeit von Russland im Energiebereich, aber auch China dringt mehr und mehr in den deutschen Infrastrukturbereich vor.
Im Wesentlichen lautet die Antwort darauf Diversifizierung. Deutschland will ein starkes Netzwerk an Partnern, um den eigenen Bedarf am Weltmarkt möglichst sicher decken zu können. Dabei gilt das Prinzip der Risikostreuung: Möglichst viele Anbieter sorgen dafür, dass einzelne Ausfälle kompensiert werden können. Das ist auch ein Klimathema – denn auch, wenn die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern sinkt, wird Deutschland noch längere Zeit Energieimporteur bleiben. Bei Umwelttechnologien will Deutschland diversifizieren und auf Innovation setzen, auch eine Wasserstoffstrategie wird erarbeitet.
Um auch wirtschaftlich die Bündnispartner mitzudenken, spricht sich Deutschland für eine Stärkung des EU-Binnenmarkts aus. Ein EU-weites Frühwarnsystem soll kritische Lieferketten beobachten, auch bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität will man stärker zusammenarbeiten. Deutschland spricht sich also für eine ambitionierte EU-Handelspolitik aus – und für den Abschluss neuer Freihandelsabkommen. Das Abkommen der EU mit den Mercosur-Staaten, das momentan durch das Veto Österreichs auf Eis liegt, sieht Deutschland also als sicherheitspolitische Chance.
„Eine höhere Resilienz unserer Volkswirtschaft, unserer finanziellen Stabilität und unserer Finanzinfrastruktur schützt den Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auch vor dem Einwirken bestimmter autoritärer Staaten.“
8. Zurück in der Weltpolitik
Eine dringende Frage, die eine Sicherheitsstrategie immer beantworten muss: Wie man mit dem Trend zu einer multipolaren, eher „transaktionalen“ Welt umgeht. Statt einer unipolaren Welt mit den USA als Supermacht einer westlich geprägten Weltordnung drängen auch autoritäre Staaten auf mehr Einfluss und bilden Allianzen – stellvertretend durch das aufstrebende China. In welcher Welt will Deutschland also leben?
Die Antwort der Sicherheitsstrategie: eine regelbasierte internationale Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts. Deutschland setzt sich für eine offene, faire und nachhaltige Handelspolitik der EU ein, will alte Partnerschaften stärken und neue aufbauen. Dabei sollen immer beide Seiten profitieren – man sei selbst bereit, auch die Interessen der eigenen Partner anzuerkennen, will sich aber nicht mehr in „einseitige Abhängigkeiten“ begeben. Es bekennt sich zum Multilateralismus und – besonders wichtig in der Frage nach dem „Weltbild“ – zu einer Weltordnung, die deutsche Werte und Interessen schützt.
Und auch im Rahmen der Vereinten Nationen kündigt Deutschland mehr Engagement an. Starke Vereinte Nationen sollen für friedlichen Interessenausgleich, die Vermeidung von Konflikten und gemeinsame Regeln sorgen, die alle Staaten gleichermaßen schützen. Oder anders gesagt: eine Ordnung schaffen, die einen Krieg in der Ukraine verhindert hätte. Darum strebt Deutschland auch einen Sitz im UN-Sicherheitsrat an – 2027/28 als nichtständiges Mitglied, aber im Rahmen einer größeren Reform auch als ständiges Mitglied.
„Den Wettbewerb mit Staaten, die einer freien internationalen Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen entgegenstehen, nehmen wir selbstbewusst an.“
9. Was offen bleibt
Obwohl es ein politisches Dokument ist, bleibt beim Lesen durchweg der Eindruck, dass diese Sicherheitsstrategie gelungen ist. Sie beantwortet alle Fragen zur außenpolitischen Linie der Bundesrepublik: Sie definiert die deutschen Interessen, steckt klar zwischen Freunden und Feinden ab, nennt mehrere ambitionierte Ziele und gibt auch klar an, wo es noch Aufholbedarf gibt.
Das ist auch der eine Kritikpunkt, den man nennen könnte: Manche Ziele der deutschen Sicherheitsstrategie sind noch unkonkret und kündigen nur an, dass es weitere Strategien geben wird – etwa eine zur Handlungsfähigkeit gegen hybride Bedrohungen oder die „Gesamtstrategie für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“. Bei der Ankündigung einer Strategie gegen Desinformation wird zumindest grob angekündigt, was drinstehen wird: Man soll „Fake News“ früher erkennen, besser darauf reagieren und auch daran arbeiten, demokratische Werte überzeugender zu vertreten. Ein löbliches Anliegen, das noch Feinschliff benötigt.
Was nicht heißt, dass sich Österreich daran kein Beispiel nehmen sollte – im Gegenteil. Die Interessen dürften in etwa deckungsgleich sein, und auch wenn die wirtschaftliche und militärische Ausgangslage unterschiedlich ist, kann sich die heimische Politik ein Beispiel an Deutschland nehmen. Ein klares Bekenntnis zur Demokratie, zu den Vereinten Nationen, zur EU und zu einer regelbasierten, internationalen Ordnung wäre hierzulande schon ein deutliches außenpolitisches Statement, wie man es selten gewohnt ist, untermauert durch konkrete Ziele und Maßnahmen.
Deutschland macht vor, wo die Reise hingehen könnte. Wird Österreich daraus lernen?